Eine Party für Herrn Vögeli

Von Felix Feigenwinter

Vor dem Eindunkeln sagte Frau Vögeli zu ihrem Gatten: “Bist du bereit, Matthias? Wir sollten endlich gehen!”

“Ach, diese Party”, antwortete Herr Vögeli, “ausgerechnet heute abend. Ich habe eigentlich gar keine Lust!”

“Heute vor zwanzig Jahren haben wir geheiratet”, rief Frau Vögeli in Erinnerung, und ihre Stimme klang bitter.

“Das ist allerdings ein Grund zum Feiern!”

“Eben”, bestätigte die Gattin, den Spott scheinbar ignorierend, “wir sind es Grafs schuldig. Schliesslich war Brigitte unsere Trauzeugin!”

“Muss man denn dauernd daran erinnert werden?” meckerte Herr Vögeli, “und überhaupt, was hat das mit mir zu tun? Brigitte ist deine Freundin. Mich hat sie von Anfang an nie gemocht. Sie mäkelte schon damals an mir herum. Nein, ausgerechnet Brigitte… diese Nörgeltante!”

“Zwanzig Jahre muss ich das nun schon ausstehen, du Nörgelonkel!…So mach dich endlich fertig, das Taxi kommt gleich!”

“Ich bin ja fertig!” brummte Vögeli.

“Die Badehose…hast du die schon an?”

“Die Badehose?!”

“Du hast doch selber gesagt, du möchtest schwimmen”, meinte Frau Vögeli; “da die doch einen Swimmingpool haben.”

“Nicht ich habe das gesagt…du hast es gesagt. Es war deine Idee!”

“Brigittes Idee. Eine gute Idee. Die Gäste können sich ein wenig erfrischen. Bei dieser Hitze! Weißt du noch, an der Party im letzten Sommer? Dein Sprung vom Balkon… das war eine Show!”

Der Dreiklang der Wohnungsglocke  unterbrach den ehelichen Dialog.

“Das Taxi!” rief die Gattin. “Komm, sonst muss der lange warten!”

“Ich bin noch nicht fertig… muss noch die Badehose anziehen!”

“Mein Gott… welche Strafe, mit so einem Mann verheiratet zu sein! Ich warte unten im Taxi! Beeil dich!”

Gegen zwei Dutzend Gäste bevölkerten Grafs Villa. Der Hausherr fachsimpelte an der Hausbar im Keller mit Geschäftsfreunden, und während Herr Vögeli in die oberen Stockwerke stieg, fragte Frau Graf Susanne Vögeli im Foyer:

“Was ist mit deinem Mann? Der wirkt so… wie soll ich sagen? Ist was?”

“Der ist doch immer so!” beruhigte Frau Vögeli, “es ist alles in Ordnung. Sogar die Badehose hat er mitgenommen!”

Im zweiten Stock, in Xaver Grafs Herrenzimmer, traf Mathias Vögeli einen älteren Gast. Er sass im matten Schein einer Ständerlampe aufrecht im Sessel einer Polstergruppe, ein leergetrunkenes Weinglas wie einen kostbaren Kelch in der Hand haltend.

“Herr Marti”, wurde ihm der gepflegte Herr vorgestellt, “ein Privatgelehrter. Er befasst sich mit Traumdeutung.”

Noch während sich Vögeli überlegte, wie er den Stoiker im Polstersessel zu einer Konversation bewegen könnte, bemerkte er, dass Martis helle Augen an ihm vorbei in den Raum hinter dem Türausgang starrten, wo nun auch Frau Graf und Susanne auftauchten.

“Gehen wir in den Garten? Vielleicht kommt doch kein Gewitter…”, hörte er Brigitte noch sagen; danach verschwanden die beiden Freundinnen auf der Treppe.

Vögeli wollte ihnen folgen, doch der Herr im Polstersessel rief ihn zurück.

“Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen”, sagte er unerwartet. “Sind Sie vermögend?”

“Nein”, bekannte Herr Vögeli, überrascht ob der Direktheit des Alten, “leider nicht. Überhaupt nicht.”

“Keine Lebensversicherung?” forschte Marti.

“Doch”, stammelte Vögeli, “doch… eine Lebensversicherung. Sogar eine recht hohe. Meine Frau liess sich von einem Versicherungsvertreter überreden und hat mich so lange beschwatzt, bis ich die Unterschrift unter den Vertrag setzte.”

“Wer würde bei einem Ableben profitieren?”

“Wenn ich sterben würde?… Meine Frau natürlich.”

“Gut”, meinte Herr Marti, “gestatten Sie mir eine letzte Frage. Haben Sie eine Badehose mitgenommen?”

“Eine… was?”

“Eine Badehose.”

“Ja”, flüsterte Vögeli, noch immer verdattert über das rätselhafte Verhör, “ich habe sie angezogen, um vielleicht ins Bassin zu springen.”

“Vom Balkon aus, nehme ich an”, sagte Marti mit gedämpfter Stimme. “Ich hoffe, Sie haben starke Nerven, damit Sie verkraften, was ich Ihnen jetzt verrate. Sie begegneten mir gestern nacht im Traum – obwohl ich sie vorher noch nie gesehen hatte! Als Sie vorhin das Zimmer betraten, habe ich Sie sofort erkannt. In meinem Traum sprangen Sie vom Balkon in die Nacht; es war etwa so dunkel wie jetzt da hinten im Garten, wo ausser der Balkontür keine Hausöffnung Licht nach draussen wirft. Später lagen Sie, nur mit einer Badehose bekleidet, auf dem Rücken auf dem trockenen Bassinboden, mit starren Augen zwischen weit aufgerissenen Lidern, die Arme wie im Flug ausgebreitet. Plötzlich blitzte und donnerte es, und ein heftiger Regen setzte ein. Er prasselte auf Ihren fast unbekleideten Körper. Danach erwachte ich.”

Von draussen hörte man Stimmen, übertönt von Frau Vögelis Lockruf; sie war, wie die meisten Gäste um diese Zeit, wohl angetrunken:

“Matthias, wir sind hier im Garten! Zeig dich auf dem Balkon!”

Herr Marti erhob sich, durchquerte mit Vögeli das Herrenzimmer, und die beiden Männer erschienen auf dem Balkon, schattenhaft wie zwei Gespenster.

“Wie deuten Sie Ihren Traum?” hauchte Vögeli, fassungslos in den finstern Garten starrend.

“Es war ein visionärer Traum”, murmelte Marti, “ein Warntraum…”

Seine Stimme wurde durch Susanne Vögelis erneutes Rufen übertönt: “Wo bleibt deine berühmte Show, Matthias?”

In diesem Augenblick erhellte ein Blitz für einen Moment den Garten.

“Schauen Sie ins Bassin!”

“Es ist leer… Sie haben mir das Leben gerettet!” Er zog den Alten schaudernd ins Zimmer zurück.

“Für mich ist diese Erfahrung jedenfalls interessant”, meinte Marti trocken; “ich werde den Fall in meinem nächsten Buch über Traumdeutung erwähnen.”

“Sie schreiben ein Buch!? Wann kommt es heraus?”

“Im nächsten Herbst. Es ist fast fertig geschrieben – nur ein authentisches Beispiel für den visionären Traum fehlte mir noch. Dank Ihnen und dem deliktischen Paar da unten kann ich diese Lücke jetzt schliessen.”

“Deliktisches Paar?”

“Frau Graf und Ihre Frau”, erläuterte Marti. “Als ich die beiden Damen vorhin beobachtete, war mir der kriminalistische Aspekt meines Traums plötzlich glasklar.”

“Meine Frau hat zusammen mit Frau Graf meinen Sturz ins leere Bassin geplant, um das Verbrechen als Unfall zu tarnen?” kombinierte Vögeli, und seine Worte wurden vom Donnergrollen aus der Ferne untermalt.

“Mord mit dem Ziel eines Versicherungsbetrugs, denke ich”, bestätigte Marti; “es wird für Sie in Zukunft wohl schwierig werden, das Leben an der Seite Ihrer Frau…”

“Es ist für beide seit zwanzig Jahren schwierig”, sagte Vögeli. “Trotzdem, ich werde Ihr Buch meiner Frau zum Geburtstag schenken. Es soll eine Überraschung sein. Daher bitte ich Sie, ihr ja nichts zu verraten!”

“Mein Interesse an der Traumdeutung ist rein wissenschaftlich”, lächelte jetzt Marti, “ich werde Ihre Frau sicher nicht anzeigen. Das müssten Sie schon selber tun. Versuchter Mord, kombiniert mit versuchtem Versicherungsbetrug – ein starkes Stück! Nur: ein visionärer Traum würde vor Gericht kaum als Beweis akzeptiert.”

Plötzlich setzte der Gewitterregen ein. Ein Blitz durchzuckte den Garten.

“Gehen wir hinunter”, schlug Marti vor, “niemand wird von Ihnen heute Nacht noch verlangen, dass Sie ins Bassin springen… bei diesem Gewitter!”

(Diesen Kurzkrimi hat Felix Feigenwinter 1985  für eine Sommer-Krimi-Serie geschrieben; die Geschichte wurde am 13. August 1985 in der “Berner Zeitung” veröffentlicht.  Ausserdem erschien sie imNebelspalter”  Nr. 40/1987 unter dem Titel “Die Badehose”.)

Tellenbachs Sturz

Von Felix Feigenwinter

Die lähmende Hitze des samstäglichen Julinachmittags mag dazu beigetragen haben, dass der schreckliche, ja skandalöse Vorfall nur wenige Hausbesucher und Nachbarn entsetzte. Auf dem Balkon des zweiten Stockwerks döste seit gut zwei Stunden der stellvertretende Abteilungsleiter des Erbschaftsamtes Sepp Winkelried. Seine Gattin, eine gebürtige Ausländerin, nannte ihn „José“, manchmal spasseshalber auch „Giuseppe“; seine betagte Mutter redete immer vom „Seppli“, wenn sie ihn meinte, Parteifreunde sagten „Sepp“ zu ihm, Arbeitskollegen „Joe“. Nur der alte Tellenbach hatte ihn unbeirrt mit „Josef“ angesprochen. Im Telefonbuch war er jahrelang unter „Winkelried Josef“ zu finden gewesen, seit kurzem war die Telefonnummer hinter „Winkelried Sepp“ eingetragen, auf Anregung eines Parteifreundes übrigens, der als Werbefachmann wirkte und den kräftigeren und volkstümlicheren Namen Sepp dem ernsthafteren, doch wie er fand, faderen „Josef“ vorzog.

Sepp, José, Giuseppe, Seppli, Joe und Josef Winkelried lag auf einer zusamenklappbaren Liege, versteckt hinter farbigen Vorhängen, welche die Sicht vom Garten und aus den Fenstern der umliegenden Häuser angenehm behinderten, wenn nicht gerade ein Windstoss die von Frau Winkelried phantasievoll aufgehängten Geländerverkleidungen fast unanständig aufblähte.

Winkelried fühlte sich geborgen unter dem Sonnenschirm und hinter den bunten Tüchern, die ihm wie wunderbare Frauenröcke vorkamen, unter denen er sich versteckt hielt, und er hoffte, an diesem geruhsamen Nachmittag seine Magenschmerzen dank Entspannung, kühlem Kamillentee und Vanillejoghurt auskurieren zu können, denn es standen strube Zeiten bevor. Die Herausforderungen im Erbschaftsamt, wo er hauptberuflich tätig war, verlangten jeden Werktag von morgens früh bis abends spät seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Begünstigt durch die bevorstehende Frühpensionierung des gegenwärtigen Amtsinhabers schien seine Beförderung zum Abteilungsleiter nicht mehr aufzuhalten zu sein. Dazu hatte er sich auf der Liste seiner Partei für die kantonalen Parlamentswahlen aufstellen lassen, und er hatte sogar Chancen, gewählt zu werden, so dass er sich im Wahlkampf entsprechend engagieren müsste, was schon nach den Sommerferien beginnen und bis in den Spätherbst hinein dauern würde, mit wochenlangem Einsatz in der Freizeit, mit Auftritten an abendlichen Wahlveranstaltungen und an freien Samstagen hinter Parteiständen auf der Strasse.

Irgendwann musste er eingeschlummert und irgendwann wieder aufgewacht sein. Ein sonderbarer Traum beunruhigte ihn. Wäre nicht Wilma, seine Frau, auf dem Balkon erschienen, um ihr Bikini und ein Frottiertuch an den Wäscheständer zu hängen, wäre es ihm schwergefallen, sich zu orientieren, so unauffällig schienen an diesem fiebrigen Sommertag Traum und Wirklichkeit ineinander überzugehen. Winkelried spürte das Bedürfnis, den Traum mitzuteilen, und er bat Wilma, sich zu ihm zu setzen, damit er ihn erzählen könne.

„Mein lieber José“, sagte Wilma, nachdem sie seinen unglaublichen Schilderungen gelauscht hatte, „das ist aber schlimm! Siehst du in mir wirklich eine solch böse Hexe?!“ Wilma sprach seinen Namen immer französisch aus, wenn sie ihn „José“ nannte, elegant und sanft mit dem weichen „Sch“ zu Beginn des Wortes (nicht spanisch mit dem strengen „Ch“). Sepp alias José Winkelried wiegte sich in Wilmas verbalem Charme, der ihm ungeahnte Horizonte eröffnet hatte, weil er seine anerzogene, vielleicht auch angeborene Schwerfälligkeit im Umgang mit Gedanken, Gegenständen und Menschen auflockerte, ihn befähigte, das Leben etwas leichter, spielerischer zu bewältigen. Sicher hatte Wilma damit, ohne es vielleicht zu wissen, den Weg zu seiner beruflichen und politischen Laufbahn geebnet.

Schon bereute José, seine Gattin mit der Erzählung des beklemmenden Traums irritiert zu haben. Er versuchte, ihn reflektierend zu relativieren, ihn nachträglich eher komisch als dämonisch zu interpretieren. Aber ein ungehöriges Rumpeln, vermischt mit einem kurzen, unterdrückten menschlichen Schrei schreckte das Ehepaar aus dem Gespräch. Fast gleichzeitig durchdrang das Geräusch eines dumpfen Aufpralls den schläfrigen Nachmittag.

Während José etwas verdutzt auf seiner Liege ausgestreckt blieb, sprang Wilma sofort auf. Sie beugte sich über das Balkongeländer und erblickte den nur mit einem Hemd bekleideten Wilhelm Tellenbach, den Hausbesitzer aus der Dachwohnung. Er lag gekrümmt auf den einst von ihm selbst gelegten Steinplatten im Garten, offensichtlich leblos. Mauerstücke und Geländerteile, die offenbar von der Dachterrasse herausgebrochen waren, umlagerten die auch im Tod noch markante Gestalt, teils auf den Platten, teils im Rasen verstreut. Die Rosenstauden entlang dem Gartenweg schienen vom Toten, als er noch lebte, genau für diese Szenerie gepflanzt und gehegt worden zu sein (Wilma verscheuchte den unheimlichen Gedanken, der sie angesichts der makaberen Idylle aus der Balkonperspektive beschlich), aber die drei Birken und der Ahorn, dessen Krone Tellenbachs Haus seit Jahren bei weitem überragte, schienen vom Unglück nicht betroffen, obwohl die Bäume, so schien es Wilma, auch gut in einen Friedhof gepasst hätten. Ihr kleiner Sohn hatte den Sturz glücklicherweise nicht mitbekommen; Frau Braun, die Bewohnerin aus der ersten Etage, hatte das Kind zusammen mit ihrer kleinen Tochter ins Schwimmbad mitgenommen. Aber jetzt sah Wilma sie zurückkehren: sie näherten sich dem Haus von der Strasse her; das muntere Kindergeplauder war schon deutlich zu hören. Normalerweise hätte Wilma gerufen und gewinkt, aber nun liess sie es bleiben, um die Aufmerksamkeit der Kinder nicht auf den Toten zu lenken. Der Anblick des verunfallten Alten im Garten, unweit vom Sandkasten, wo die Kinder oft spielten, hätte ihren Sohn fürs Leben traumatisieren können, stellte sie sich vor, und sie hetzte durch die Wohnung, durchs Treppenhaus, hinunter vors Haus, um die ahnungslosen Heimkehrenden abzufangen, sie auf den Schrecken vorzubereiten.

Auf dem Balkon hatte sich inzwischen auch Sepp Winkelried erhoben. Er fühlte sich schwindlig und stützte sich aufs Balkongeländer. Ungläubig starrte er in den Garten, unschlüssig, ob er seine Wahrnehmung für Wirklichkeit halten sollte.

Allmählich begriff er, dass er einen wirklichen Toten betrachtete.

Angesichts des aus dem Dachstock Gestürzten beschlichen ihn zwiespältige Gefühle. Da lag der Hausbesitzer und Wohnungsvermieter, aber er war gleichzeitig der erste – geschiedene – Ehemann seiner Frau Wilma (die Ehe dauerte etwa vier Wochen, dann flüchtete Wilma in seine, Sepp Winkelrieds, Arme, doch der alte Tellenbach lockte das Paar zurück in sein Haus…); Tellenbach war Trauzeuge und Ehrengast an ihrer Hochzeit und, das Bedrückendste von allem, der leibliche Vater seines, Josef Winkelrieds, Sohnes!

Winkelried versuchte, Tellenbachs Schatten aufzuhellen. Ueberrascht fühlte er Heiterkeit  in sich aufsteigen beim Gedanken, dass der in seiner Jugend wegen Totschlags verurteilte Schwerenöter nun selbst durch einen gewaltsamen Tod gefällt worden war.

Die Ironie des Schicksals empfand Winkelried als wohltuend, sie entprach seiner Vorstellung von Logik, von Gerechtigkeit.

*

Niemand im Haus schien daran zu zweifeln, dass Tellenbach Opfer eines (wie Josef Winkelried es ausdrückte: für ihn typischen) Unfalls gewesen sei. Nur der käsige alte Mann, der stundenlang im Garten und überall im Haus herumschnüffelte, schien dieser Erklärung zu misstrauen. Unterstützt von einem technischen Fahndungsteam inspizierte er den hintersten Winkel der Liegenschaft, auch den Laden im Parterre, wo früher der Bestattungsunternehmer Tellenbach seine Särge ausstellte und heute ein Antiquitäten- und Kuriositätenhändler Samoware, Barockengel und Wilhelm-Tell-Denkmäler en miniature anbot. Und er plauderte mit allen Hausbewohnern, sogar mit den beiden kleinen Kindern, auch  mit einigen Nachbarn.

Der für einen Kriminalkommissar ziemlich abgetakelt, ja wackelig wirkende Kettenraucher, der sich übrigens als „Detektiv Borer“ vorstellte und allen, mit denen er sprach, einen Ausweis mit Foto hinstreckte, interessierte sich unter anderem für das frühere Leben des Toten, und dieses war nun weiss Gott ungewöhnlich genug. In seinen Notizblock kritzelte der alte Fahnder Beobachtungen und Recherchen mit auffallend zittriger, nervöser Schrift, die vermutlich nur er selber entziffern konnte. Der Studie über Tellenbach schien der Detektiv weit mehr Gewicht beizumessen als der unmittelbaren Suche nach einem mutmasslichen Mörder, die Borers hartnäckige Ermittlungen doch eigentlich erst hätten sinnvoll erscheinen lassen, wie Winkelried kopfschüttelnd kritisierte. Aber Borer, ein ungemütlich undurchsichtiger Mensch, wie Wilma und Josef Winkelried gleichermassen fanden, deutete an, dass auch die Möglichkeit eines Selbstmordes sorgfältig geprüft werden müsse; bei einem Mann, der früher einen Menschen getötet habe, was aktenkundig sei, sei ein aussergewöhnliches Aggressionspotential anzunehmen. Winkelried misstraute auch dieser Aeusserung; er witterte irgendwelche psychologische Ablenkungsmanöver des Berufsschnüfflers, traute ihm perfide taktische Spielchen zu, die er in diesem Fall für ärgerlich, weil unnötig hielt, denn für ihn war klar: Tellenbach war verunfallt, durch einen unglücklichen Einbruch des morschen Gemäuers und Terrassengeländers zu Tode gestürzt. Da gab es keinen Täter zu suchen – der einzige Mörder im Haus war tot…

Josef Winkelried nervte die ganze Angelegenheit, dieser Aufstand, als er sich zu erholen hoffte, und die seither nicht ruhenden Untersuchungen und Befragungen durch den gelbfingrigen Fahnder, der im Haus Tabakgestank und Zigarettenstummel hinterliess wie ein Hund seine Duftmarken. All das schädige sein Image, befürchtete Winkelried, auf das er nun doch besonders angewiesen war vor den Parlamentswahlen und auch im Hinblick auf die erhoffte Beförderung zum Abteilungsleiter, ein Meilenstein in seiner beruflichen Laufbahn; zudem beeinträchtigte es seine Gesundheit (die Magenschmerzen hatten wieder zugenommen).

                                                                 *

Und Borer telefonierte frühmorgens sogar in Winkelrieds Büro. Er möchte ihn nochmals sprechen, sagte er, eine halbe Stunde genüge; er möge ihm bitte sagen, um welche Zeit es ihm möglich sei. Winkelried wurde wütend; er habe weiss Gott keine überflüssige Zeit, schimpfte er, aber dann nahm er sich zusammen (die Sekretärin hörte zu, schiesslich sollte er Abteilungsleiter werden!), und er vereinbarte in sachlichem Ton ein Rendez-vous über Mittag.

Der aufsässige Schnüffler erschien pünktlich, er zog ein Tonbandgerät aus seinem Ledertäschchen und bat Winkelried, ihm den Traum, den er laut Befragung vom 18. Juli am Nachmittag kurz vor Tellenbachs Sturz auf dem Balkon seiner Frau erzählt habe, was Winkelried ihm im Eifer der ersten Aufregung auch noch mitgeteilt hatte, auf das Tonband zu sprechen.

Winkelried war perplex. „Meinen Sie nicht, das geht doch etwas weit?“ fragte er den ihn undurchsichtig musternden Kriminalbeamten, „ein Traum ist etwas sehr Persönliches, sehr Intimes, und was soll ein Traum in den Akten einer kriminalistischen Untersuchung? Sie sind doch nicht Angestellter eines psychologischen oder psychiatrischen Instituts, oder? Die befassen sich mit Träumen, mit dem Unterbewussten…“

„Erzählen Sie nur ruhig, wir haben Schweigepflicht. Nichts dringt an die Öffentlichkeit!“ behauptete Borer.

„Gerichtsverhandlungen sind bekanntlich öffentlich“, widersprach Winkelried. „Falls es zu einem Mordprozess käme, würden solche Informationen doch auch publiziert! Aber da ich fest davon überzeugt bin, dass Tellenbach verunglückt ist, kann ich ja ruhig loslegen.“

Winkelrieds Tonfall war jetzt spöttisch geworden. Die Sache begann ihm nun doch langsam Spass zu machen.

„Erzählen Sie“, wiederholte Borer beharrlich.

Und Winkelried legte los.

*

„Entschuldigung“ meldete sich Borer, „erzählen Sie nun aus Ihrem Traum oder aus der Wirklichkeit?“

„Aus meinem Traum, wie Sie’s ja wollen!“

„Gut“, sagte Borer, „ich meine nur, weil Sie den Traum wie eine sorgfältig aufgebaute Geschichte erzählen. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Traum gehabt zu haben, wo solche ausführlichen Dialoge vorkamen. Träume setzen sich  doch meistens aus Bildern zusammen.“

„Ich erzähle Ihnen meinen Traum in Form einer Geschichte, einverstanden?“

„Gut, gut“, meinte Borer und paffte Winkelried den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht, „wichtig ist der Inhalt, nicht die Form. Wer aber ist José, sollen Sie das sein? Ich dachte, Sie heissen Sepp, oder Josef?“

„Meine Frau nennt mich José“, erklärte Winkelried.

„Und Elsbeth, eine Traumfigur oder eine wirklich existierende Person?“

„Beides“, sagte Winkelried, „soll ich nun weitererzählen?“

„Ja“, sagte Borer, „mit Willi ist, nehme ich an, Wilhelm Tellenbach gemeint.“

„Wo bin ich stehengeblieben?“

*

„Entschuldigen Sie“, unterbrach Borer erneut, nun ziemlich ungeduldig, „könnten Sie das Ganze nicht etwas straffen, das Wesentliche schildern? Sonst sitzen wir den ganzen Nachmittag hier, vielleicht noch abends! Und“, argwöhnte er ärgerlich, „ist es überhaupt möglich, sich an derart lange Dialoge aus einem Traum so genau zu erinnern?“

„Wie Sie wollen“, meinte Winkelried, inzwischen glänzend gelaunt und hochinspiriert; es freute ihn offensichtlich, dem Kriminalisten als Märchenonkel zur Verfügung zu stehen, und je ungehaltener Borer wurde, desto genüsslicher schien Winkelried mit seiner Erzählung auszuholen.

Wieder störte Borer. „Kürzer“, seufzte er, „bitte kürzer! Straffer! Das Wesentliche!“

„Es kommt gleich“, versprach Winkelried, „es wird Sie sehr interessieren, denn nun wird’s kriminalistisch!“

Borer, hin- und hergerissen zwischen seiner Neugier und dem unbehaglichen Eindruck, Winkelried würde ihn auf den Arm nehmen, nickte resigniert.

(Borer setzte zur Frage an, wer Elsbeth genau sei, aber er unterdrückte sie, wohl, um Winkelried nicht noch mehr zu Ausschweifungen zu ermutigen.)

*

„Stopp!“ befahl Borer, „es genügt!“ Er schaltete das Tonbandgerät aus und packte es in sein Mäppchen. „Kann ich telefonieren?“

Winkelried schob ihm den Telefonapparat hin.

„Bitteschön.“

Borer schien Winkelrieds Frau zu telefonieren, denn er sagte: „Guten Tag Frau Winkelried, ist mein Kollege, Herr Marti, noch bei Ihnen? Könnte ich bitte mit ihm sprechen?“

Nach einer kurzen Pause sagte er: „Hallo, Rolf, hat alles geklappt? Ja, bei mir auch. Herr Winkeklried hat mir den Traum ausführlich erzählt, die reinste Märchenstunde…“

Borer verabschiedete sich knapp und war schon aus dem Büro verschwunden. Winkelried riss die Fenster auf, dann trug er den überfüllten Aschenbecher zur Toilette, wo er Borers Hinterlassenschaft hinunterspülte. Zurück im Büro, telefonierte er Wilma und erfuhr, dass bei seiner Frau ein anderer Kriminalbeamter erschienen sei, der sie ebenfalls nach dem Traum befragt habe.

„Was hast du erzählt?“ fragte Winkelried.

„Nur das Wesentliche, ganz kurz“, sagte Wilma, „und du?“

„Eine ausgeschmückte Version – mit allem Drum und Dran. Ich kam mir wie die Gebrüder Grimm vor…“

Wilma lachte. „Dann hast du ihnen viel Material geliefert! Aber was soll das Ganze? Wieso interessieren die sich für Träume?“

„Träume sind Schäume, meinst du? Du vergisst die Tiefenpsychologie! Nein, im Ernst: Ich glaube, das Ganze ist viel banaler. Die wollten wahrscheinlich einfach feststellen, ob wir gelogen hatten, als wir aussagten, ich hätte dir kurz vor Tellenbachs Sturz einen Traum erzählt. Jetzt wollten sie überprüfen, ob wir das Gleiche erzählen. Wenn du einen ganz anderen Traum erzählt hättest als ich, könnten sie uns überführen…“

„Des Mordes?“ witzelte Wilma.

„Der Lüge. Und unser Alibi wäre nicht mehr glaubwürdig… Und dann würden wir weiter belästigt von diesem fürchterlichen Kettenraucher, der mein ganzes Büro verpestet hat!“

„Nein“, wusste Wilma, „der junge Kriminalbeamte, der mich befragt hat, sagte mir, Borer sei nur Ferienaushilfe; normalerweise würden sie ihn nicht mehr auf die Leute loslassen. Nächste Woche käme der Chef aus den Ferien zurück. Dann hätten wir es mit jemand anderem zu tun…“

Winkelried schien von dieser Botschaft nicht besonders beglückt zu sein. „Am liebsten wäre es mir, ich könnte meine Zeit wieder sinnvoller einsetzen als für solch unnötige Verhöre! Entschuldigung, jetzt muss ich aufhängen – ich habe noch nichts gegessen. In zwanzig Minuten ist die Mittagspause zu Ende. Alles wegen diesem Tabakgilb!“

Winkelried eilte hinaus zur nächsten Imbissecke. Ein erneuter Anfall von Magenschmerzen verhinderte, dass er das Sandwich zu Ende ass.

Aber am darauffolgenden Dienstag besuchte tatsächlich ein braungebrannter, ferienentspannter neuer Kommissar – ein Herr Jäger – Frau Winkelried und teilte ihr mit, dass die Untersuchung nun abgeschlossen sei und der Fall ad acta gelegt werden könne. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass Tellenbach verunglückt, nicht ermordet worden sei. Auch Selbstmord werde ausgeschlossen.

„Entweder hat Borer so gute Ermittlungsarbeit geleistet, dass aufgrund seiner Unterlagen dieser Entscheid nun rasch gefällt werden konnte“, meinte Winkelried erleichtert, nachdem ihm seine Frau davon berichtet hatte, „oder er hat sich völlig unnötig ins Zeug gelegt…“

Ottokars Flucht

Von Felix Feigenwinter

Früher, als Ottokar noch Meerschweinchenzucht betrieben hatte im elterlichen Garten: die Tierchen, in der Kleinkinderschule gegen Vaters Militärmesser eingetauscht, im Komposthaufen sich königlich vermehrten, in Einerkolonne an Löwenzahn vorbei den väterlichen Salatbeeten zustrebten, wo sie für Stunden weidend verweilten, hatte er Vater wie Mutter an den Rand der Verzweiflung getrieben mit seinem Wunsch, Sträfling zu werden, was der Vater, Steuerbeamter in der siebzehnten Besoldungsklasse, empörend fand. Eine Beamtenlaufbahn war Ottokar als trüber Lebensinhalt erschienen, vorzeitige Pensionierung, Einteilung in höhere Besoldungsklassen: die häufigsten Gesprächsthemen am Familientisch, ausweglose Aussichten. In Sträflingen hingegen mussten ungeahnte Möglichkeiten schlummern: Sie lösten Furcht aus! Die Mutter hatte den Umgang mit ihnen verboten, wenn sie nach getaner Arbeit unter der Aufsicht eines blaubehosten Wärters sich stärkten in der Nähe des elterlichen Hauses; sie hegten Fluchtgedanken, hofften auf Erlösung, kämpften für Freiheit, dachte Ottokar. Ein kämpfender Beamter hingegen war absurd, ebenso Vater auf der Flucht; der marschierte nur immer aufs Steueramt mit seiner kargen Miene, gehorsam um halb acht und mittags um halb zwei, trug keine Fluchtgedanken mit sich herum, überhaupt keine Gedanken vielleicht, ewig dasselbe trostlose Gesicht vielmehr. Manchmal begleitete ihn Ottokar auf halbem Weg, stumm, denn Vater war ein wortkarger Mann; ein tapferer, hatte die Grossmutter gesagt.

Als einmal müder Nebel über die Wiesen kroch, zog Ottokar einen Leiterwagen neben Vater her, setzte sich darein auf abfallender Strasse, glaubte, Vater würde hinten halten; sah sich um, suchte vergeblich nach Vater. Der hatte eine Abkürzung eingeschlagen, schweigsam einen Fussweg betreten, hatte nicht gemerkt, dass Ottokar gegen eine verkehrsreiche Strasse raste, Trams und Autos vorbeiflitzten. Ottokar sah mit zunehmender Deutlichkeit, dass er in wenigen Augenblicken krachend den Verkehrsstrom unterbrechen würde (einbiegen, sich eingliedern war unmöglich bei der Geschwindigkeit, den Leiterwagen würde es überschlagen in der Kurve). Ottokar griff an die Hinterräder, spritzte Hautfetzen an die scheuernden Speichen und Fingerblut, steuerte auf den Gehsteig zu: Der Wagen schmetterte gegen eine Verkehrsstange, der Kleinkinderkörper auf den Asphalt. Die Gefahr indessen war gebannt, wenige Meter vor der Einbiegung unterbrochen die drohende Fahrt. Der Vater stand ärgerlich unten, sagte, wo bleibst du so lange nur, schalt wegen der zerschlissenen Hose.

Des kleinen Ottokars Sträflinge aber erschienen frühmorgens Sensen wetzend auf Herrn Peters Wiesen: weckten Grashalme niederratschend späte Schläfer, fällten Mattenstücke in der zunehmenden Sonnensenge, scheuchten Schmetterlinge auf und Heuschrecken, schlugen Grillen zur Flucht, tranken kühlenden Most unter wehendem Laub und verschwanden aus der brodelnden Sommerglut in ihrem beschatteten Kantonsgefängnis, weite Graswüsten hinterlassend auf den Parzellen Herrn Peters, dem eine Zementfabrik gehörte, eine ausgedehnte Gärtnerei überdies, die ewige Frühmorgenstimmung ausbreitete mit ihren gläsernen Treibhäusern, ein umfangreicher Sportplatz sodann, worauf Glieder eines städtischen Turnvereins geduldet wurden an bestimmten Wochenabenden, im übrigen jedoch Herr Peter persönlich Stabhochsprung übte. Wenn Dieti, Herrn Peters Sohn, mit spitzem Stab heraustrat in die Dämmerung, bog Herr Peter selbst bald in schwarzem Trikot aus dem Gartentor, unternahm Laufen an Ort mit anschließendem Blitzstart und Spurt über kurze Distanz als vorbereitende Maßnahme, ergriff den Stab vor den ehrfürchtigen Zuschauern: Beamten und Arbeitern aus dem Quartier, setzte mehrmals zum Sprung an, bevor er den zierlichen Körper endgültig hinaufschwang in die laue Abendluft, riss, wie immer, die Latte in die sandige Tiefe; entschwand der dankbar applaudierenden Menge mit federndem Schritt und stolz erhobenen Hauptes. Ottokar hatte die unvermögenden Schritte stets als peinlich empfunden, Hohngelächter befürchtet. Das hätte sich schlimm ausgewirkt angesichts Herrn Peters göttlicher Stellung im Quartier! Doch die Leute fanden stets lobende und bewundernde Worte, die Sprünge trotz der sirrend stürzenden Latte beachtlich für sein Alter.

Bezeichnend war Herrn Peters Jagdhund sodann: Flippimänni, ein krummbeiniger Dackel mit spitzbübischem Aussehen, der hin und wieder in Ottokars Garten sich verirrte, an einem Meerschweinchen sich vergriff, hauptsächlich aber Herrn Peters Weidenstauden am Bachufer überwachte, einen Frevler aufspürte eines Sonntagmorgens: einen Insassen des städtischen Altersheimes, den Dieti, Herrn Peters Sohn, aus dem Quartier verjagte, ihm weitere Aufenthalte in der Gegend verunmöglichte: Kleinkinderschüler auf ihn hetzte, die im Chor Weidenstehler Weidenstehler brüllten. Herr Peter jagte auch Ratten, die am Bachufer nisteten, verstand sich aber schlecht aufs Schiessen. Oft entwischten die Tiere unversehrt oder mit Streifschüssen im Geäst, selten nur klatschten sie getroffen ins Wasser und hüllten sich in dumpfe Wolken. Später verschwanden die mähenden Sträflinge von den Wiesen, übten sich im Korbflechten, und Ottokars frühe Zukunftspläne zerschlugen sich angesichts neuer, verwirrender Ereignisse.

II

Die Flucht auf den Münsterturm hatte Ottokars Existenz am Humanistischen Gymnasium bedroht: der Lateinlehrer hatte Manneszucht bemängelt, was Ottokar kalt ließ, da er noch ein Binggis war in der zweiten Gymnasialklasse und kein Mann, gar keiner sein wollte, noch nicht; Ausschluss aus der Schule ließ sich immerhin vermeiden, wäre auch peinlich gewesen. Der Jugendpsychiater hatte ein Wort mitgeredet, hatte Ottokar zugezwinkert in jenem farbigen Sprechzimmer mit den Kinderzeichnungen, überhaupt sehr vertraulich getan: das lässt sich schon einrenken. Die Strafklasse nahm Ottokar gern in Kauf, auch die schlechte Note im Latein, nur den Vater bemitleidete er, der fand es beschämend, und die Mutter, die weinte, grundlos, denn sechs Jahre später bestand Ottokar eine glänzende Matura: rechtfertigte, desavouierte. Nachträglich erschien Ottokar die Flucht ohnehin begründet, durchaus notwendig, vernünftig auch, der Münsterturm der naheliegendste Ausweg aus dem Dilemma: thronte der doch gerade neben dem Schulgebäude. Ottokar trieb es einfach hinauf, er schaffte damit Demütigungen, lästige Erklärungen aus dem Weg: Er hatte nichts gelernt, keine Verben, keine Deklinationen repetiert, geschweige denn Konjugationen, hatte in der Zehn-Uhr-Pause erst erfahren vom drohenden Unheil; der Lateinlehrer Fides musste die Schriftliche schon vor vier Tagen angekündigt haben. Ottokar sah den roten Sandstein glimmen in der Morgensonne, lauerte auf die passende Gelegenheit: eine Unaufmerksamkeit des beaufsichtigenden Lehrers, der hatte auch nur zwei Augen; im günstigen Augenblick fixierten sie einen erhitzten Bubenknäuel. Da hieß es einschreiten: energisch, autoritär; die alten Griechen und Römer hatten auch gekämpft, liessen aber Manneszucht walten, achteten edle Beweggründe, jene Rauferei entbehrte humanistischer Grundsätze, nahm pöbelhafte Formen an, entehrte den würdigen Schulhof. Ottokar wusste das zu nutzen. Er entwich feixend durch das Tor, stieg in den mächtigen Turm ein, erkletterte den muffigen Schacht auf knarrenden Holztreppen, die befreiende Höhe auf Sandsteinstufen: ausgetretenen, verwitterten, war Herr über die Situation jetzt: konnte dem Polizeiwachtmeister, der dort untern untätig herumstand, ungesehen auf den Helm spucken beispielsweise, sogar pinkeln, wenn er wollte. Er sah auf dem entfernten Marktplatz Hausfrauen Kohlköpfe aussuchen, die grünen Schürzen der Marktfrauen blinkten in der Sonne, schweifte über Hinterhöfe und Hausdachspitzen, beobachtete Sekretärinnen, die klatschten statt schrieben, Süssigkeiten verzehrten zwischen den Diktaten. Er stand mit dem lieben Gott auf du und du, lenkte sein allmächtiges Auge steil hinunter, zum Fenster seines Klassenzimmers. Dort sah er den Lateinlehrer Fides zwischen den Bänken amten, humanistische Blicke um sich werfen,  bemerkte einen Schüler, sein Vordermann sonst, unter die Bank schielen, wo das Lateinbuch offen dalag. Fides konnte es nicht entgangen sein, sonst war er dumm – er unternahm aber nichts: der war eben Primus, sah erneut unter die Bank, ungestraft! Fides hatte einen gnädigen Tag offenbar, war freundlich gesinnt, trotz der Schriftlichen.

III

Nach bestandener Matur schien Ottokar die Welt zu Füssen zu liegen: der Weg zum Erfolg ist jetzt geebnet, hatte der Vater gesagt. Noch stand die Rekrutenschule bevor, viele Wochen Ertüchtigungsübungen im Kantonnement, auf dem Kasernenhof und im Gelände, im Wald und auf der Wiese –  das formt dich zu einem richtigen Mann, hatte der Vater gesagt, zu einem richtigen Mann! Ottokar war wild entschlossen, hörte gut auf seinen Korporal und seine Offiziere  – er hörte sie vom Feind sprechen (nein, brüllen!), ständig vom Feind; obwohl Ottokar alle Menschen liebte wie sich selbst. Doch das war jetzt vorbei, da war er noch ein Kind gewesen; jetzt wurde aus ihm ein Mann, ein richtiger Mann.

Der Oberleutnant stand vor ihm, er hatte Züge von seinem Vater, nur war er forscher, vitaler; auch viel jünger, ein dynamischer junger Mann, das konnte man wohl behaupten. Der Oberleutnant schrie ihn an, ihn, dem Sanftmut oberstes Gesetz war; ihn, dessen wackere Meerschweinchen in seinem Garten geweidet hatten. Eines hatte er “Schneewittchen” getauft. An einem kühlen Frühlingsmorgen hatte er sein weißes Fell gefunden, auf einem Kiesweg des Gartens, mit einer dünnen Blutspur am Kopf. Ein Marder hatte es sauber ausgehöhlt. Diese Raubtiere waren oft des Nachts im Garten zu Besuch. Immer wenn Ottokar ein gellendes Pfeifen vernahm, das die nächtliche Stille durchschnitt, in sein Schlafzimmer drang, wusste er: am Morgen würde wieder eines seiner Lieblinge fehlen.

“Rekrut Ottokar, wie haben Sie Ihren Helm angezogen?! Ihr Helm sitzt ja verkehrt auf Ihrem Kopf! Das gibt es doch nicht! Geschirren Sie sich anständig an! Aber ein bisschen schnell!! Zehnmal Liegestütz, hopp, los, eins-zwei… und jetzt kriechen, hopp, los, tiefer in den Dreck, kriechen, kriechen, schneller, schneller! Nicht träumen, los, kriechen…!”

Ottokar kroch, kroch, kroch. Als er sich endlich erhoben hatte, atemlos, gedemütigt, hörte er den Oberleutnant rufen:

“Los, nochmal, kriechen! Wart, ich will Ihnen schon Beine machen …. hopp, los, Sie Arsch…”

Ottokar war jetzt ganz ruhig, so ruhig wie damals, als er auf den Münsterturm gestiegen war. Er sah dem schreienden Oberleutnant ins Gesicht, er sah ein Monstrum mit Helm, dann sagte er ganz ruhig, geradezu sanft:

“Sie sind mein Feind.”

Der friedfertige Ottokar zielte gut mit seinem Sturmgewehr.

*

“Das hätten Sie doch einfacher haben können”, meinte später sein Verteidiger vor der Gerichtsverhandlung, “wenn Sie den Militärdienst verweigert hätten, hätte man Sie nur ein paar Monate eingesperrt und Sie müssten nicht jahrelang im Zuchthaus verbringen.”

Doch Ottokar beharrte darauf; der begrabene Oberleutnant war sein Feind gewesen, da war nichts zu machen. Und als das Gerichtsurteil ausgesprochen war, da verklärte sich Ottokars Gesicht. Mit einem Lächeln, das tiefste Befriedigung auszudrücken schien, verließ er den Gerichtssaal.

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(Dieser Text wurde im Jahr 1978 in der Sammlung “Merkwürdige Geschichten aus Basel”  im Mond-Buch Verlag Basel veröffentlicht.)

Der Wirt vom Spalenberg

Auszüge aus dem 1979 erschienenen Roman

Von Felix Feigenwinter

Zweites Kapitel

Es war an einem Frühlingsmorgen. Ganz Basel war beflaggt, und zum erstenmal seit langem schien die Sonne. Ich stand auf einer Traminsel beim Bahnhof, müde und bettreif. Tags zuvor hatte ich an der Eröffnung der Frühjahrsmesse teilgenommen. Den ganzen Nachmittag war ich mit Kollegen durch die Messe gestreunt. Ich musste darüber schreiben – und abends waren wir in einem Nachtclub gelandet, wo wir uns stundenlang tummelten, fast bis zum Sonnenaufgang. So stand ich an jenem Morgen, nach einem Frühstück im Bahnhofsbuffet, wieder allein auf der Traminsel, abgeschlafft und trotzdem schon konzentriert auf die journalistische Aufgabe, die mich am Nachmittag erwarten würde: Ich musste meinen Messe-Bericht bis abends abliefern. Wären nicht zwei Fahrkarten-Kontrolleure gewesen, die ich plötzlich entdeckt hatte – ich hätte bestimmt den nun einfahrenden Tramzug bestiegen, um rasch nach Hause zu gelangen. Mein künftiges Leben hätte sich anders abgespielt…

Warum ich nicht jenes Tram bestiegen hatte? Ich erkannte wie gesagt die beiden in Zivilkleidern getarnten Billett-Kontrolleure, deren Gesichter mir als eifrigem Trambenützer längstens vertraut waren – da fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, rechtzeitig die neue Monats-Marke für mein Abonnement zu kaufen. Eine lapidare Sache… Das war mir schon mehrmals passiert: Ich gehörte nicht zu den Pünktlichen. Anderseits wollte ich meine Schluderei nicht leichtfertig ehrgeizigen Beamten ausliefern. Und ich scheute auch das Gaffen schadenfroher Trampassagiere, die nur darauf zu lauern schienen, vergessliche Mitfahrer zur eigenen Beruhigung als entlarvte Bürger zu feiern. Nun gut, ich hatte meinen Stolz und, zugegeben, auch eine mimosenhafte Empfindlichkeit. Eigentlich wäre das alles nicht der Rede wert – aber ich bin da doch wohl eine Erklärung schuldig. Kurz: Ich war zu matsch, als dass ich mich nach durchzechter Nacht auch noch nach einem Intermezzo in der geschilderten Art gesehnt hätte. Ich liess die Kontrolleure ohne mich abfahren, wartete auf das nächste Tram und überlegte, ob ich nicht lieber ein Taxi nehmen sollte – Taxichauffeure waren in der Regel Leute, die einen Uebermüdeten in Ruhe liessen. Da sah ich ihn zum erstenmal vor mir auftauchen.

Seine gedrungene, zwerghafte Gestalt fiel mir sofort auf: Er trug einen Koffer, wirkte fast ein wenig tragisch auf diesem festlich beflaggten Bahnhofplatz inmitten munterer Messebesucher ohne Gepäck. Und beinahe hätte ich noch sein Leben gerettet – was ich heute als besondere Ironie betrachten muss – ; aber das entpuppte sich als ein Missverständnis: Er betrat nämlich in dem Augenblick das Trassee, als sich von hinten ein schnell fahrender Tramzug näherte. In meinem Uebermüdungszustand hatte ich die Beherrschung verloren: „Aufpassen, ein Tram!“ schrie ich ihm zu – meine Aufregung wäre unnötig gewesen: Der Zug glitt wegen einer nur während der Frühjahrsmesse üblichen Weichenstellung über die Schienen nebenan. Er war gar nicht gefährdet gewesen! Aber der Fremdling, der – wie er später oft genug beteuerte – an jenem Frühlingsmorgen zum erstenmal in Basel eintraf, dieser Zwerg hatte auf meinen Zuruf hin sein Gesicht tatsächlich in Richtung Tram gestreckt, hatte es gesehen und war trotzdem nicht von der Stelle gewichen, obwohl die Weichenstellung für ihn zu jenem Zeitpunkt ebenso wenig wie für mich klar sein konnte. Auch dafür gab und gibt es eigentlich keine vernünftige Erklärung.

Ich möchte nicht abschweifen. Ich will noch erklären, was mich an seiner Erscheinung besonders beeindruckt hatte. Da war, neben seiner Kleinheit, vor allem sein Gesicht, von dem eine bemerkenswerte Intensität ausging, die mich von Anfang an fesselte. Der Blick war schillernd, irgendwie aufgelöst, dann aber auch wieder unerwartet bohrend. Und da war sein stattlicher, dunkler Hut, der ihn älter und würdiger machte, als er in Wirklichkeit war, ausserdem natürlich grösser, aber gleichzeitig auch irgendwie lächerlich und dadurch mitleidheischend. Dass nicht nur er als tragisch zu bezeichnen war und ist, sondern ebenso sein Betrachter, der in sein Blickfeld geriet, ohne dass beide wissen konnten, wie ihnen geschah – diese Erkenntnis ging mir erst viel später auf. Aber da war es bereits zu spät. Doch ich will nicht vorgreifen.

Der kleine Mann steuerte auf meine Traminsel zu und liess seinen schweren Koffer vor meinen Füssen nieder. Sein grün-bläulich-grau schillernder Fischblick fixierte ich freundlich-lauernd, und irgendwie hatte ich den Eindruck, diesem Menschen schon irgendwo begegnet zu sein; aber wenn Sie mich fragen, wo, so kann ich das nicht sagen.

Mit einer Stimme, die mir sympathischer war als sein Blick, dessen Freundlichkeit ich nämlich von Anfang an beargwöhnte, ohne dass es mir damals schon bewusst gewesen wäre warum, behauptete er: „Sie kennen sich in Basel aus; können Sie mir sagen, wo ich in dieser Stadt möglichst schnell zu einer guten und billigen Wohnung komme?“

Der Mann sprach Berndeutsch, mit einem Akzent, der ins Französische griff; und da von mir in der Zeitung gerade eine Kolumne erschienen war, in der ich für fremdenfreundlicheres Verhalten der Einheimischen plädierte, antwortete ich spontan und heiter, soweit dies meine übernächtigte Verfassung zuliess:

„Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Am besten schauen Sie sich die Inserate in einer Basler Zeitung an. Kommen Sie zu mir nach Hause – dann können Sie das in Ruhe durchsehen. Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas übermüdet – ich habe in der letzten Nacht nicht geschlafen… Kommen Sie, wir nehmen ein Taxi!“

So kam ich doch noch zu meiner Taxifahrt, und knapp eine halbe Stunde später sass ich mit Paul Ignaz Brändli, so hiess mein unerwarteter Gast, kaffeetrinkend in der Wohnung. Dort gab ich ihm einen Stoss Zeitungen, um mich bald von ihm zu verabschieden – ich verkroch mich ins Bett. Als ich wenige Stunden später aufwachte, sass er noch immer an meinem Küchentisch und studierte Inseratenplantagen- seine Hartnäckigkeit war schon damals erstaunlich. Ich schlug ihm vor, bei dem schönen Wetter einen Spaziergang zu machen, er könne ja die Frühjahrsmesse besuchen; ich müsste jetzt meinen Zeitungsartikel schreiben, und wir könnten später, wenn ich damit fertig sei, zusammen essen gehen. Paul Ignaz war einverstanden.

Abends sass ich mit ihm im „Braunen Mutz“, und ich versuchte, ihm auf den Zahn zu fühlen. Woher kam er, was wollte er in Basel, wieso diese irgendwie ziellose Ankunft – ohne eine konkrete Vorstellung über eine Wohnmöglichkeit? War Paul Ignaz verheiratet, hatte er Familienanhang, kannte er schon Leute in Basel? Was und wo wollte er arbeiten?

Es war herzlich wenig, was ich aus ihm herausbrachte. Irgendwie waren seine Erklärungen verschwommen – oder vielmehr ausschweifend und abschweifend; es schien mir, als ob er etwas verbergen wollte. Dabei erzählte er nicht etwa wenig. Vielmehr erging er sich in umständlichen, übrigens durchaus spannenden Schilderungen über einzelne Episoden aus seinem Leben, die aber wenig Zusammenhängendes ergaben. Ich musste annehmen, dass er bisher als Postbeamter irgendwo am Murtensee, wahrscheinlich in einer französischsprachigen Gemeinde, tätig gewesen sei; offenbar hatte er eine Freundin, oder er war verheiratet gewesen, aber durch einen tragischen Unglücksfall hatte er diesen Menschen verloren. Dann hatte er scheint’s ein kleines Vermögen geerbt, das ihm jetzt ermöglichte, ein neues Leben zu beginnen. Es schien mir, als ob er ein Mann sei, der Vergessen suche – sich an einem ganz anderen Ort und unter ganz anderen Leuten eine neue Existenz aufzubauen versuchte. Da ich nicht aufdringlich sein wollte, bohrte ich vorerst nicht weiter. Ich dachte mir, dass er mir mit der Zeit, wenn wir uns besser kennen  würden, schon noch mehr erzählen würde.

Drittes Kapitel

Nach einigen Tagen gab Paul Ignaz sein Bestreben, in der Zeitung nach einer Wohnung zu suchen, offensichtlich auf. Es blieb zwar vorerst unausgesprochen, aber alles deutete darauf hin, dass er sich in meiner Wohnung heimisch zu fühlen begann. Den Inhalt seines grossen Koffers hatte er aus- und in einen leerstehenden Kasten im Estrich geräumt. Ich bemühte mich, ihm zu verstehen zu geben, dass meine Wohnung zu klein sei, um auf die Dauer zwei anspruchsvolle Individualisten zu beherbergen – wobei ich nicht nur auf meine oft nächtlichen journalistischen Schreibarbeiten hinwies, sondern beispielsweise auch auf die Besuche meiner Freundin, einer Musikstudentin. Zudem deutete ich an, dass der Hausbesitzer, und vielleicht sogar das Einwohneramt, Schwierigkeiten bereiten könnten; ich war davon überzeugt, dass es Paul Ignaz bisher unterlasse hatte, sich offiziell anzumelden, was  für früher oder später Unannehmlichkeiten erwarten liess, da er sich ja offenbar in Basel anzusiedeln beabsichtigte. Er liess sich nun nicht mehr davon abbringen, sich bei mir einzunisten. Alsbald baute er eine Estrichecke mittels Pavadexplatten und eigenhändig gelegten elektrischen Leitungen in eine Wohnkammer aus, ohne mich oder den Hausbesitzer vorher zu verständigen. Die übrigen Mieter – alleinstehende Studenten, welche die unteren Etagen des schmalen Altstadthauses  bewohnten – zeigten sich gleichgültig oder tolerant. Was sollte ich tun?

(…..)

Sechstes Kapitel

Ich war an jenem Abend allein zu Hause. Silvia weilte an einem Konzert, und Paul Ignaz hatte einen seiner einsamen Spaziergänge unternommen. Es war ein linder Abend im  Mai. Ich hatte einen Zeitungsartikel über einen jubilierenden Gesangsverein zu schreiben; eine harmlose Arbeit, die ich früher als erwartet beenden konnte. So sass ich plötzlich unbeschäftigt allein in meiner Wohnung, sah zum offenen Fenster auf den Spalenberg hinunter, wo sommerlich gekleidete Menschen vorbeiflanierten; ihre gedämpften und übermütigen Stimmen drangen verführerisch zu mir herauf. Es waren viele junge Leute in kleinen Scharen, dazwischen diskretere Liebespaare und ältere Menschen, darunter auch stille Einzelgänger. Auf einmal verdichtete sich der Menschenfluss; ich sah zum Teil festlich gekleidete Damen und Herren, ein gemischtes Publikum, das vermutlich aus dem Kellertheater unten am Spalenberg geströmt kam.

Ich überlegte, dass nun wohl auch das Konzert aus sein würde, das Silvia besucht hatte. Schon wollte ich mir die Schuhe anziehen, um Silvia beim Stadtcasino, wo das Konzert stattgefunden hatte, abzuholen. Doch dann stellte ich mir vor, dass sie vielleicht längstens auf dem Heimweg oder gar schon zuhause bei ihren Eltern sein würde; hatte sie mir nicht am Nachmittag am Telefon gesagt, dass sie sich heute besonders müde fühle und deshalb gleich nach dem Konzert  früh schlafen gehen wollte? Also liess ich es bleiben. Wieder sah ich zum Fenster hinaus, an den schmalen, schiefen Hausfassaden hinunter, witterte die Frühlingsluft.  Ich verspürte Lust, mich unter die Leute zu mischen, vielleicht im nahen Lokal ein Bier zu trinken, wo möglicherweise Bekannte sassen, mit denen ich mich hätte unterhalten können.

Aber nun fiel mir ein, dass Paul Ignaz’ Estrichkammer leerstand. Brändli war wieder einmal ausgegangen, spazierte vermutlich am Rheinufer, und das brachte mich auf die Idee, hinaufzugehen, um mich in der Kammer umzusehen – nach jenen Indizien zu forschen, die uns bisher fehlten, um unsere Vermutungen über sein Vorleben zu erhärten. Ich zitterte vor Aufregung, als  ich die Estrichtreppe hinaufschlich – die Situation war grotesk, schliesslich war es mein Estrich! Die Wohnungsmiete, die ich monatlich bezahlte, schloss seine Benützung ein, der Estricheingang war nur durch meine Wohnung zu erreichen, einen anderen Zugang gab es nicht. Und Brändli war ein Eindringling, der mir für seine Einquartierung keine Untermiete bezahlte. Was sollten also die Skrupel!

Und doch, die Tür zu seiner Kammer, die er auf einem Hausabbruch billig erstanden hatte, öffnete ich sehr vorsichtig, fast verstohlen – und ich erinnere mich, dass sie klemmte, an einem der Drähte  hängenblieb, die im Estrich für das Aufhängen von Wäsche gespannt waren. Ich musste den Draht mit der Hand heben, damit ich die Tür überhaupt aufbrachte – es kam mir vor, als ob das Paul Ignaz absichtlich konstruiert hätte, um den Zugang zu seiner Kammer zu erschweren.

Das kleine Zimmer war den Umständen entsprechend gemütlich eingerichtet und ziemlich ordentlich aufgeräumt. Sogar ein Staubsauger lehnte in einer Ecke. Neben einem kleinen Schreibtisch mit Lampe stand ein Tischchen, auf dem der grosse, schwarze Hut lag, den Paul Ignaz bei seiner Ankunft in Basel anhatte, als ich ihn zum erstenmal gesehen hatte. Seither hatte er ihn nicht mehr getragen, ausser bei seiner Reise an den Murtensee vor einer Woche. Ich schnupperte am Hut – es schien mir, als ob er nach Weihrauch röche, aber vielleicht täuschte ich mich. Solche Hüte wurden in Hutläden kaum mehr angeboten; in Brockenhäusern mochten sie noch aufzutreiben sein, für wenig Geld. Daneben ein kleiner Plattenspieler, ein altmodisches, schlichtes Modell. Das Bett  auffallend klein – ein Kinderbett? (Paul Ignaz mochte darin gerade Platz finden; für mich wäre es sicher zu klein gewesen, obwohl ich auch kein Riese bin.) Auf dem Nachttischchen sah ich das schwarze Mäppchen, das er oft bei sich trug, wenn er tagsüber in die Stadt ging.

(…..)

Geräusche, ein Knarren, und dann undeutliche Stimmen, liessen mich zusammenschrecken. Das kam nicht von draussen durch die Dachluke, sondern aus dem Estrichinnern! Ob Paul Ignaz schon zurück war – so ungewöhnlich früh für seine Verhältnisse, es war noch lange nicht Mitternacht… Aber mit wem sollte er reden? War er so schrullig geworden, dass er lebhaft mit sich selber sprach? War es Silvia, die er vielleicht zufällig auf der Strasse getroffen hatte, als sie aus dem Konzert gekommen war? Wollte sie mich überraschen? Um aus der Kammer  zu schleichen, war es zu spät. Unter allen Umständen wollte ich den Eindruck vermeiden, dass ich hier herumspionierte – wer immer das sein mochte.

Der Türspalt weitete sich, Paul Ignaz Brändli erschien im Rahmen, gefolgt von einer jüngeren Frau, die ich zum erstenmal sah. Seine Verblüffung war offensichtlich nicht kleiner als meine, und auch die Begleiterin schien verwundert. „Sie entschuldigen“, sagte ich, „ich wollte da oben die Dachluke öffnen, es würde sonst zu schwül. Unerträglich, diese Hitze! Bis im Sommer muss das ja ein schöner Brutofen werden!“

Instinktiv hatte ich das Richtige gesagt; jetzt war er in die Defensive gedrängt. Sein mir aufgezwungenes Estrich-Logis war zur Diskussion gestellt – er musste sich rechtfertigen, nicht ich, der ich als rechtmässiger Mieter nur meine Pflicht tat.

„Ja, es ist stickig, ich muss wohl ausziehen, bevor der Sommer anbricht“, antwortete Paul Ignaz bedächtig. Und dann, zu seiner Begleiterin: „Darf ich vorstellen… das ist Louis Wolf, mein Gastgeber. Und das ist Meret Wengeler, Gérantin von Beruf.“

Ich verbeugte mich höflich und reichte Frau Wengeler die Hand, obwohl ich mich über den Unterton in Paul Ignaz’ Vorstellung ärgerte. Was hiess da „Gastgeber“! Seine Generosität fand ich unangemessen – schliesslich war er ein ungebetener Gast, das wusste er doch genau… Aber dafür konnte Frau Wengeler nichts. Ich lud die beiden zu einem späten Imbiss in meine Wohnung ein.

(…..)

Siebtes Kapitel

Schnell erfüllte sich Paul Ignaz’ Wunsch, ein Restaurant zu eröffnen, freilich nicht. Zwar besuchte er bald fleissig einen Kurs des Wirtevereins, und seine neue Freundin bot mit ihrer reichen Berufserfahrung Gewähr, dass das Unternehmen von Anfang an fachgerecht geplant werden konnte. Aber es gab einige Schwierigkeiten zu überwinden, zum Beispiel wegen der Lokalität. Paul Ignaz war in der ersten Juniwoche aus meinem Estrich in Meret Wengelers Wohnung umgezogen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, die Gaststätte ins Zentrum der Altstadt zu legen, an den Spalenberg, ausgerechnet ins Erdgeschoss des Hauses, in dem ich wohnte. Er hatte offenbar schon Kontakte mit dem Hausbesitzer aufgenommen, und dieser stünde – so erklärte mir Brändli – dem Plan, das Parterre und möglicherweise auch das erste Stockwerk in einen Restaurationsbetrieb zu verwandeln, nicht ablehnend gegenüber. Wahrscheinlich rechnete der Mann sich aus, dass dann seine Probleme mit den Studenten, die im Haus bisher wie in einem Taubeschlag verkehrten, für immer gelöst seien. Da ich im obersten Stock gleich unter dem Estrich hauste, schien mich das nicht zu tangieren. Ich stand dem Projekt mit abwartendem und anfänglich durchaus wohlwollendem Interesse gegenüber – ja, ich bot Paul Ignaz an, mich ihm wenn nötig als Werbetexter und Ideenspender zur Verfügung zu stellen. Das Vorhaben, eine neue originelle Gaststube auf die Beine zu stellen, begann mich zu faszinieren.

Nur Silvlia zeigte sich zusehends misstrauischer. Sie hatte klare Vorstellungen von unserer Zukunft als dort am Spalenberg wohnende dreiköpfige Familie. Meine kleine Wohnung hätte dazu nicht ausgereicht, und deshalb fasste sie auch die darunterliegende Wohnung ins Auge. Sie wollte, dass ich deswegen mit dem Hausbesitzer rede.  Doch das hatte ich immer wieder aufgeschoben, ich wollte nichts überstürzen. Zudem schien Silvias Plan mit jenem von Paul Ignaz durchaus zu vereinbaren zu sein – denn das Haus war dreistöckig, dazu kam das Erdgeschoss, in dem eine greise Modistin ihre Hüte verkaufte. Es war vorauszusehen, dass sie dies nicht mehr lange tun konnte. Sie war gebrechlich und kam vielleicht ins Altersheim. Auch wenn sich Paul Ignaz’ Restaurant über zwei Etagen inklusive Parterre verteilt hätte, hätten wir uns immer noch unsere zweistöckige Wohnung einrichten können. Ich versuchte dies Silvia nahezulegen, doch sie blieb skeptisch.

Achtes Kapitel

Zumindest im ersten Jahr unserer neuen Bekanntschaft hatten wir uns fast regelmässig getroffen. Wir besuchten Konzerte, das Theater, gingen zusammen ins Kino. Nachdem ich mit Silvias und Brändlis Unterstützung einen Gebrauchtwagen gekauft hatte, unternahmen wir harmlose Ausfahrten in die Umgebung, auf die Gempenfluh, auf eine Ponyranch, ins Schwarzwaldgebiet und ins Elsass. Das vertiefte die Freundschaft; es entstand auch Anlass zu Neckereien, etwa, wenn ich wieder einmal vergessen hatte, den Benzintank genügend aufzufüllen. Nicht selten kam es vor, dass wir deswegen während einer Ausfahrt steckenblieben; Erlebnisse, die uns mit der Zeit das Gefühl gaben, wie eine kleine Familie zu sein. Ich war froh darüber, denn so verlor Silvia ihren Argwohn gegenüber Paul Ignaz und Meret und deren Mietansprüchen am Spalenberg, und anderseits schien mir Gewähr dafür geboten, dass sie unsere eigenen Wohnabsichten respektieren würden.

An einen gemeinsam besuchten Anlass erinnere ich mich, weil ich etwas beobachtete, was mir zu denken gab. Es war eine kontradiktorische Wahlversanstaltung, wie sie vor Nationalratswahlen üblich sind. Es war im Spätsommer oder Frühherbst, so genau weiss ich das nicht mehr; jedenfalls war es ein warmer Abend. Der Vorsitzende, irgend ein Parteirepräsentant, der selber nicht kandidierte, stellte die Kandidaten vor. Und dann sah man sich plötzlich mit jener urkomischen Szene konfrontiert, die an Männerversammlungen immer wieder zu beobachten ist: Der Vorsitzende erteilt die Bewilligung oder vielmehr den Befehl, die Kittel auszuziehen, als ob nicht jeder einzelne der im Versammlungsraum Anwesende selber hätte entscheiden können, wann und ob er sich wegen des zu warm gewordenen Kleidungsstücks entledigen will – und als ob es eminent wichtig sei, diese Verrichtung uniform auszuführen. Kittellose Männer – wie ich zum Beispiel, der ein kurzärmeliges Sommerhemd und nichts darüber trug – waren von dieser Zeremonie ausgeschlossen, ebenfalls die anwesenden Damen. Es war zum Kichern, wie sich eine ganze Versammlung von ausgewachsenen Staatsverantwortlichen, Wirtschaftsbossen und ähnlicher Prominenz auf die autoritäre Anweisung eines Vorsitzenden wie von der Tarantel gestochen erhob, um – die einen fast linkisch-gequält, die anderen schneidig-sportlich – ihre Kittel auszuziehen und an die Stuhlrücklehne zu hängen. Diese von jahrhundertealter Einübung in militärische Befehlsschulung und Gehorsamkeitsrituale geprägte Verhaltensweise hatte mich immer wieder von neuem verblüfft. Die nullkommaplötzliche Unterordnung von Individuen unter einen starren Kollektivzwang – und das bei der Erledigung eines so banalen Vorgangs, wie es das Ausziehen von Kitteln ist. Eine groteske Blüte der Sorge um Wahrung männlicher Würde durch Uniformierung selbst der belanglosesten Verrichtung. Durch die verhaltensforschende Brille entging es mir nicht, dass ein einziger Mann an jenem Abend seinen Kittel nicht mit den anderen ausgezogen hatte. Nein, er hatte ihn, trotz der Schwüle im kleinen Saal, während des ganzen Abends anbehalten. Eingezwercht in seinen dunklen Sakko harrte er bis zum Ende der Veranstaltung beharrlich schweisstriefend aus.

Anschliessend luden uns Meret und Paul Ignaz in ihre Wohnung ein. Ein viel zu enges, künstlich beleuchtetes Foyer führte in ein relativ geräumiges Wohnzimmer, in das dann ungehindert die Kochdüfte aus einer fensterlosen und nur unzulänglich ventilierten Kochnische strömten. Das mickerige, ebenso fensterlose Badezimmer mit Toilette war ebenso stereotyp in seinen Grundrissen wie die restlichen zwei kleinen Räume, die als Elternschlafzimmer beziehungsweise Kinderzimmer gedacht waren. In dieser sterilen Wohnung hatte Meret Wengeler versucht, eine wohnliche Landschaft zu gestalten, die die Phantasielosigkeit des Architekten einigermassen vertuschte und dafür die Persönlichkeit der Bewohner unterstreichen sollte. Paul Ignaz freilich hatte seine schrullige Eigenbrötelei, die Silvia und mich dazu verführt hatte, ihn für einen ehemaligen Priester zu halten, auch bei Meret Wengeler beibehalten. Er schien von Meret getrennt in seinem kurzen Bett im Kinderschlafzimmer zu nächtigen, und diesen Raum schien er meistens abgeschlossen zu halten, ebenso seinen Kleiderschrank. Ich bemerkte es an jenem Abend, als ich ihn in sein Zimmer begleitete, wo er den Büroordner mit der Korrespondenz aufbewahrte, die er über die geplante Restaurantseröffnung führte. Während Meret und Silvia in der Küche eine Spaghettisauce zubereiteten, folgte ich ihm zur Kammer, deren Tür er mit einem Schlüssel aufschloss, den er seiner Kitteltasche entnahm. Danach öffnete er, ebenfalls mit einem auf sich getragenen Schlüssel, den Kleiderschrank, um diesem den Ordner zu entnehmen.

Ich warf einen Blick in den Kasten. Auf dem hohen Schaft, über den an den Bügeln hängenden Kleidern, sah ich den grossen schwarzen Hut, den er bei seiner Ankunft in Basel getragen hatte. Seit seinem Auszug aus meinem Estrich hatte er ihn nie mehr aufgehabt. Wie ein heiliger Gegenstand thronte er hier im Kasten, geschützt vor den Blicken Uneingeweihter.

Paul Ignaz verschloss den Kasten sorgfältig und führte mich aus dem Zimmer, dessen Tür er ebenfalls zusperrte. Den Büroordner trug er ins Wohnzimmer, wo Meret und Silvia den Tisch gedeckt hatten. Hierauf zog er sich für eine Weile in seine Kammer zurück, während ich in dem Ordner, der nun auf dem Esstisch lag, zu blättern begann.

Ich sah Briefe des Wirtevereins, erhielt Einblick in Ignaz’ Kontakte mit amtlichen Stellen, las aber auch Durchschläge von Briefen, die er an meinen Wohnungsvermieter am Spalenberg geschrieben hatte. Stutzig machte mich ein Abschnitt eines solchen Schreibens: „Da ich beabsichtige“, so las ich, „mich demnächst mit der Gérantin Meret Wengeler zu vermählen, mit der ich zusammen das Restaurant führen werde, käme es vielleicht in Frage, dass wir in Ihrem Haus nicht nur unser Restaurant eröffnen, sondern auch privat einziehen. Ich wäre froh, wenn wir uns bald darüber unterhalten könnten.“

Ich war erschüttert. Im Klartext hiess das doch nichts anderes, als dass die Brändli es mindestens auf jene Studentenwohnung abgesehen hatten, die Silvia und ich für unsere Zukunft reserviert haben wollten. Silvias Befürchtungen erwiesen sich als realistisch, ihr Argwohn traf instinktiv ins Schwarze.

Als Brändli aus seinem Zimmer zurückkehrte, war er wie verwandelt. Er trug nun ein leichtes, offenes Sportshemd und helle, enganliegende Hosen. So wirkte der kleine Mann unerwartet sportlich, geradezu athletisch mit seinen muskulösen Armen und Beinen und der behaarten Brust. Ob er heimlich Hanteln hob oder Liegestütze übte? Während seines Aufenthalts in meinem Estrich hatte ich nie derartiges bemerkt. Er sah missbilligend auf mich und den geöffneten Ordner. Es war ihm offensichtlich unangenehm, dass ich darin geschnüffelt hatte. Er hatte mir etwas Besonderes zeigen wollen: den amtlichen Brief, mit dem ihm mitgeteilt wurde, dass er keine Bewilligung erhalten könne, in seiner Gaststube Alkohol auszuschenken. Ich hatte mich dafür als Journalist interessiert, da ich über die betreffende Bewilligungspraxis einen Artikel schreiben wollte. Doch jetzt hatte ich einen Brief gelesen, in dem Brändlis listiges Bestreben, Silvia und mir die zweite Etage am Spalenberg heimlich wegzuschnappen, offen zutage trat…

Meret und Silvia schienen ahnungslos, als sie mit der dampfenden Spaghettischüssel aus der Kochnische traten. Brändlis Verstimmung mochte sie erstaunt haben; aber während des Essens vergass man das schnell.

Neuntes Kapitel

Die Spannungen, die sich aus der Wohnungsgeschichte ergaben, wurden äusserlich überspielt. Es war geradezu grotesk, wie Paul Ignaz und ich unseren Bräuten gegenüber ungebrochene Eintracht demonstrierten – und es gab Augenblicke, da glaubte ich selber daran.

So weihte mich Paul Ignaz in gewisse Vorbereitungsarbeiten für die Lokaleröffnung ein. Er erzählte mir zum Beispiel, er würde andere Lokale studieren und mit anderen Wirten diskutieren, um die von ihnen gemachten Erfahrungen für seine Gaststube nutzbringend anzuwenden. Besonders schien ihn die Aktion eines Restaurateurs beeindruckt zu haben, der regelmässig einen Eintopf auftischen liess. Dieser erfreute sich in den Armee-Feldküchen seit langem einer grossen Beliebtheit. Die kräftige Fleischsuppe wurde in authentischen Militärgamellen serviert, ein Detail, das vor allem bei ehemaligen Militärdiensttauglichen älteren Semesters sentimentale Erinnerungen heraufzubeschwören schien. Jedenfalls sassen in jenem Lokal stets genüsslich mampfende graumelierte Herren, wobei der Anblick der ihnen vorgesetzten Gamellen sie besonders glücklich zu machen schien. Paul Ignaz war es nicht entgangen, dass diese treuherzige Bescherung für Militärküchen-Nostalgiker eine treue und dankbare Stammkundschaft sicherzustellen imstande war. Nicht, dass er diese Aktion kopieren wollte – die zum Teil verbeulten und arg verwitterten Gamellen (offenbar originale Exemplare, vermutlich authentisches Feldküchen-Geschirr aus den Aktivdienstzeiten während des zweiten Weltkriegs) auf den sauberen Tischtüchern hatte er doch unästhetisch empfunden, wie er mir gestand. Zudem sah er, vielleicht beeinflusst durch die Gérantin Meret, für sein zu gründendes Restaurant ein gemischtes Publikum vor, also auch Jugendliche, Hausfrauen und ganze Familien mit Kindern . Allzu Einseitiges wollte er vermeiden. Aber die Idee, mit einer bestimmten Atmosphäre und gewissen Attraktionen darauf ansprechende Gäste ins Lokal zu locken, wollte er aufgreifen und möglichst vielseitig anwenden. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass im neuen Restaurant kein Alkohol ausgeschenkt werden durfte – eine bedauerliche Einschränkung, wie Paul Ignaz fand, da seiner Meinung nach Feinschmecker zum Essen gerne Wein genehmigten. Die Brändli gaben die Hoffnung allerdings nicht auf, die Bewilligung für den Alkoholausschank irgendwann später doch noch zu erlangen. Vorläufig blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Gaststube alkoholfrei zu konzipieren. (…)

Ein Plakat, das ich beim Eingang zum Kellertheater unten am Spalenberg entdeckt hatte, inspirierte mich noch in jenem Herbst zu einer Idee, die Paul Ignaz sofort aufgriff. Das Plakat kündigte die Aufführung des Kindermärchens „Frau Holle“ an, und während ich kurz darauf in meiner Küche sass und mir eine Omelette zubereitete, hatte ich einen Einfall, der sich zwischen blödsinnigem Kitsch und kreativer Spielerei zu bewegen schien. Paul Ignaz war hell begeistert. Ich entwarf ein Kindermenü, das ich „Pfannkuchen Frau Holle“ nannte. Das Menü an sich war keinesfalls revolutionär: Es handelte sich um eine schlichte, mit Apfelschnitzen gefüllte und Zucker bestreute Omelette. Das Originelle war die Präsentierungsart: Ich stellte mir einen Keramikteller vor, an dessen hinterem Rand in einer runden Vertiefung eine in Ton geformte, bunt bemalte, ein Bettkissen ausschüttelnde Miniatur-Frau-Holle steckte. Der Zucker konnte aus dem von der Märchenfigur gehaltenen, als Zuckerbehälter konstruierten Kissen auf die Omelette gestreut werden. Paul Ignaz nannte mich ein Genie, nachdem ich ihm diesen Einfall geschildert hatte. Er bat mich, einen Keramiker ausfindig zum machen, der eine Serie der von mir entworfenen „Frau-Holle-Teller“ herstellen sollte, und zwar bis zum nächsten Frühjahr, spätestens bis kurz vor Fasnachtsbeginn. Bis dann wollte Paul Ignaz Frau Wengeler heiraten. (…) Brändlis Euphorie versuchte ich zu nutzen, indem ich ihn diskret daran erinnerte, dass bald auch ich heiraten würde und Silvia demnächst zu mir ins Haus am Spalenberg einziehen werde. Ich hoffte, er habe meinen Wink verstanden und war zuversichtlich, er würde sein Bemühen, uns die Wohnung wegzuschnappen, aufgeben aus Dankbarkeit für meinen Tip für den „Pfannkuchen Frau Holle“. (…)

Fünfzehntes Kapitel

Ich kann mich nicht erinnern, einen eindrücklicheren Schnee-Einfall erlebt zu haben. Geschneit hatte es bereits anfangs November, während der Herbstmesse, was an sich schon aussergewöhnlich war.

Doch diese Bescherung war nach wenigen Stunden weggeschmolzen. Früh im Dezember gingen dann eine Nacht lang grosse, dicke Flocken nieder. Am Morgen brachen Baumäste unter dem Ballast ein, und auf den Strassen und Plätzen versank die städtische Verkehrsordnung im weichen, kalten Gewand. In den nächsten Tagen und Nächten schneite es weiter. Eine „Normalisierung der Lage“, wie sich Behördemitglieder und Presseleute ausdrückten, war ausser Sicht. Am Spalenberg tummelten sich von Tag zu Tag grössere wintersportliche Scharen. Schlittelnde Kinder und Erwachsene in Skiausrüstung prägten das Strassenbild. Die „Spalenberg-Stube“ erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Es verging kein Nachmittag, an dem sich das Lokal nicht mit hungrigen Schlittelkindern und –familien gefüllt hätte. Mein „Pfannkuchen Frau Holle“, inzwischen zum Hit unter den Kindermenüs in der ganzen Stadt aufgestiegen, fand reissenden Absatz. Während draussen mächtige Schneeflocken durch die Luft wirbelten, schüttelten drinnen Kinderchen den Zucker-Schnee aus den Frau Holle-Kissen auf die Pfannkuchen. Ich begann zu bedauern, dass ich auf  Paul Ignaz’ ursprüngliches Angebot, mich am Verkaufserlös des Pfannkuchen-Geschäfts zu beteiligen, nicht eingegangen war.

(…..)

Bereits am Nachmittag des 24. Dezember kamen die Brändli in unsere Wohnung, um Vorbereitungen für das Festmahl zu treffen. Während die beiden Frauen in der Küche die Gans und die Beilagen präparierten, schmückten Paul Ignaz und ich den Weihnachtsbaum. Brändli zeigte sich in bester Laune. Nachdem der Baum in seiner vollen Pracht dastand, schleppte er erstaunlich grosse Weihnachtspakete aus der unteren Etage in unser Heim. Weil die Festgans bereits schmorte, zündeten wir auch schon die Kerzen an. Vor dem Essen galt es aber noch, den Wein zu holen. Paul Ignaz hatte darauf bestanden, für die Getränke selber besorgt zu sein. Da seine „Spalenberg-Stube“ alkoholfrei geführt war, hielt er die Weinvorräte bei sich zuhause im Kleinbasel. Er bat mich, ihn  dorthin zu begleiten. Fürs Festmahl habe er acht Flaschen gut gelagerten Pommard bereitgestellt. Bis wir zurück sein würden, würde die Gans sicher fertiggebraten sein, und das Fest könnte beginnen. Ich freute mich auf diesen Schmaus. Einen so gemütlichen Abend zusammen mit den Brändlis hätte ich mir vor wenigen Tagen noch gar nicht vorstellen können!

Wir waren bereits aus dem Haus, als Brändli noch einmal umkehrte, weil er in der Wohnung die Tramkarte und den Wohnungsschlüssel vergessen habe, wie er sagte. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und bei diesem Wetter war eine Tramfahrt der Benützung des Autos vorzuziehen. Zusammen stapften wir den Spalenberg hinunter zum Marktplatz. Dort bestiegen wir das Tram, das uns zur anderen Rheinseite fuhr.

Durchs Schneegestöber gelangten wir zu Brändlis Wohnung. Die acht Flaschen Pommard lagerten auf dem Parkettboden; sie fühlten sich wohltemperiert an und funkelten im Schein des Stubenlichts. Brändli wickelte jede einzelne in Zeitungspapier ein und schichtete sie in eine Korbtasche. „Jetzt können wir gehen“, meinte er dann. Seine Stimme bebte feierlich.

Wir tauchten wieder in den Winterabend. Weil uns auf der Clarastrasse ein Tram wegfuhr, entschlossen wir uns, den Weg zu Fuss zurückzulegen. Wir stapften, die Korbtasche gemeinsam an den Henkeln tragend, über den Claraplatz und durch die Greifengasse, näherten uns der Mittleren Brücke.  Ein Gefühl behaglicher Vorfreude erfüllte mich. Bald würden wir zusammen in der Wohnung sitzen, zu viert die reich garnierte Gans und den Pommard geniessen, im Kerzenlicht eine Freundschaft besiegeln, die so lange Zeit in weite Ferne gerückt schien. Silvia und Meret würden das Festmahl schon angerichtet haben – unser Glück schien endlich eingebettet in eine harmonische Umgebung, nach der ich mich schon immer gesehnt hatte.

Paul Ignaz und ich schienen die einzigen zu sein, die zu dieser Stunde noch unterwegs waren. Die Familienfeiern mussten schon alle begonnen haben; ich hörte jauchzende Kinder, sah brennende Weihnachtsbäume. Wir schritten weiter, genossen schweigend den Anblick der schneeverhangenen Häusersilhouetten dem Grossbasler Ufer entlang; die Münstertürme schimmerten rötlich. Von irgendwoher, aus der Ferne,  durchdrang eine Polizei- oder Feuerwehrsirene die Stille. Sonst aber war alles sanft, weihevoll friedlich, selbst das Knirschen unserer Stiefel im Schnee.

Noch als wir unten in den Spalenberg einbogen, war ich ahnungslos. Auch als Brändli zu schnuppern begann und sagte: „Da riecht’s nach Brand!“, verlor ich meine Zuversicht nicht. Behaglich lächelnd antwortete ich: „Weihnächtlicher Bescherungsduft!“ Erst als ich eines der Feuerwehrautos in der Strasse stehen sah, davor eine dunkle Menschenansammlung, stutzte ich. Ein wildes Feuer züngelte in den Winterhimmel. Es drang aus dem Dachstock des Hauses, wo ich wohnte. Wir erlebten, wie das Gebälk in sich zusammenkrachte. Aus den Fensterlöchern meiner Wohnung stoben die Funken. Die „Spalenberg-Stube“ versank im Löschwasser, die Verwüstung war nicht aufzuhalten.

Sechzehntes Kapitel

Die Untersuchungen hatten ergeben, dass Silvia und Meret nicht die geringste Chance gehabt hätten, die Brandkatastrophe zu überleben. Das Feuer hatte offenbar zuerst den Weihnachtsbaum ergriffen, und noch bevor es die in der Küche hantierenden Frauen bemerkt hätten, sei das Benzin explodiert in dem unterm Weihnachtsbaum stehenden Kanister, der offenbar unzulänglich geschlossen gewesen sei. Dadurch habe sich das züngelnde Element, begünstigt auch durch den durchs zerschmetterte Fenster eindringenden Luftzug, unaufhaltsam ausgebreitet. Eine Flucht ins Treppenhaus sei ausgeschlossen gewesen, weil dieser Weg abgeschnitten gewesen sei. Die beiden verkohlten Leichen hatten Feuerwehrmänner an der Stelle gefunden, wo sich die Schwelle der Tür befand, die einst die Küche vom Wohnzimmer getrennt hatte. Auch die hölzerne Zwischenwand war vollständig ein Raub der Flammen geworden.

Erstaunt hatte den zuständigen Untersuchungsbeamten der Benzinkanister unterm Weihnachtsbaum. Paul Ignaz Brändli lieferte über diese in Geschenkpapier eingewickelt gewesene Explosionsursache eine ebenso verblüffende wie einleuchtende Erklärung. In meiner Verwirrung jener Tage bestätigte ich sie auf Nachfrage der Untersuchungsbehörde. Brändli hatte angegeben, dieses gewiss ausgefallene Geschenk sei als freundschaftlich-neckische Erinnerung an frühere gemeinschaftliche Autofahrten gedacht gewesen. Auf denen sei es, weil ich oft rechtzeitiges Benzintanken vergessen hätte, immer wieder zu unvorgesehenen Zwischenhalten gekommen. Diese Tatsache konnte ich nur bestätigen – ich fand es im ersten Moment, trotz den eingetretenen schrecklichen Umständen, geradezu schmeichelhaft, auf welch  liebevoll-schelmische Weise Paul Ignaz meiner gedacht hatte. Den Benzinbehälter im Geschenkpapier wertete ich als eine rührende Versöhnungsgeste –denn unsere damaligen Ausfahrten in meinem kleinen Occasion-Wagen hatten uns allen schöne Stunden beschert. Nach der Missstimmung der letzten Monate und Wochen konnte eine Erinnerung an eine weiter zurückliegende, harmonische Zeit doch nur freundlich gemeint gewesen sein, dachte ich. So kam es, dass ich seine Angaben dem Untersuchungsbeamten gegenüber mit eigenen ausführlichen Informationen untermalte. Indem ich meine Fassungslosigkeit über die Brandkatastrophe mit den für mich höchst tragischen Folgen und meine wachsende Wut über die vermeintliche Tölpelhaftigkeit zu unterdrücken versuchte, half ich den Verdacht über ein unlauteres, gar verbrecherisches Verhalten ausräumen. Erst viel später wuchsen in mir Zweifel.

Unmittelbar nach dem Unglück hatte mir Brändli seine Wohnung, die früher Meret gehört hatte, angeboten. Ich war darüber vorerst dankbar, denn das ersparte mir Bittgänge bei anderen Bekannten oder Verwandten. Und eine Einquartierung in ein Hotelzimmer hätte ich damals als besonders trostlos empfunden.

Als Brändli an jenem kalten, frühen Morgen des Weihnachtstages die Tür zu Merets Schlafzimmer öffnete, das er mir zur Verfügung zu stellen angeboten hatte, sahen wir, dass Meret tags zuvor vergessen hatte, das elektrische Licht zu löschen. Die Lampe schien immer noch; Brändli knipste das Licht mit düsterem Schweigen aus. Die Trübnis, die uns plötzlich umfing, erschreckte und beelendete mich. Brändli verliess den Raum geräuschlos. Es schien mir damals, als ob ich in einen Traum geraten sei, aus dem ich nicht mehr erwachen könne. Die zwei folgenden Tage und Nächte verbrachte ich fast nur im Bett, aber ich blieb wach.

Auch am Tag der Bestattung von Silvia und Meret auf dem Friedhof wohnte ich noch bei Paul Ignaz. Nach den Beerdigungen befand ich mich am Rand des seelischen und körperlichen Zusammenbruchs. Ich hatte drei Nächte lang nicht mehr geschlafen. Die Vorgänge auf dem Friedhof hatten mir den Rest gegeben. Die Bestattungen wurden getrennt vollzogen, aber zeitlich zusammenhängend, so dass Trauergäste, die an beiden teilnehmen wollten, keine Zeit verloren. Natürlich waren auch Silvias und meine Eltern gekommen, alle mit tragisch-vorwurfsvollen Gesichtern. Mit Brändli schlich ich mich frühzeitig davon. Das Händeschütteln guter und weniger guter Bekannter und Verwandter hatte ich als Tortur empfunden. Ich war derart erschöpft, dass ich während der Taxifahrt nach Hause eindämmerte. Kaum hatte ich mich dann aufs Bett in Merets früherem Zimmer gelegt, schlief ich ein.

Als ich erwachte, vermutete ich, es sei am nächsten Morgen. In Wirklichkeit hatte ich eine Nacht und einen ganzen Tag geschlafen; es war schon wieder Abend, wie ich etwas später bemerken sollte. Im Bett liegend starrte ich zu den gelblichen Gardinen, dahinter auf einen verschneiten Hinterhof, schneebedeckte Dächer und zwei rauchende Kamine im Dämmerlicht. Ausser diesem traurigen Anblick irritierte mich ein Geräusch, aus dem ich zuerst nicht recht klug wurde, bis ich dahinter kam, dass es sich um den gedämpften Lärm von fliessendem Wasser handelte. Nachdem ich aus dem Bett gestiegen war und an der Badezimmertür im schmalen Vorraum gelauscht hatte, wusste ich es.  Das Badezimmer war verschlossen; Brändli badete. Die Tür zu seinem Schlafzimmer dagegen stand offen. Ich betrat den Raum und nahm ein ziemliches Durcheinander von verstreuten Kleidern wahr; auch die Kastentür stand offen. Brändlis schwarzen Hut entdeckte ich auf einer Kommode am Fenster. Gedankenverloren ergriff ich ihn und drehte ihn in den Händen, während ich durchs Fenster in den Hinterhof sah, wo Kinder einen Schneemann bauten. Es war ein ungewöhnlich breitrandiger, hoher Hut, auch inwendig exklusiv verarbeitet, nämlich mit einem breiten, am oberen Saum festgenähten Band, das derart üppig gefüttert schien, dass es eine Art Kopfpolster bildete. An einer Stelle war die Naht des Bandsaums aufgerissen, mein Zeigefinger verirrte sich im Loch und blieb stecken. Ich machte eine seltsame Entdeckung: Unter diesem Band waren sorgfältig gefaltete Banknoten versteckt, ein geschickt getarntes Depot von vielen Dutzend Tausendernoten!  Schnell legte ich den Hut zurück auf die Kommode; das war ein Geheimnis, das Brändli todsicher nicht preisgeben wollte. So ein Kauz – er bewahrte sein Vermögen statt zinstragend auf einer Bank in seinem grossen, alten Hut auf! Das erinnerte mich an Geschichten von misstrauischen Hutzelweibchen; sie gingen betteln, und nach ihrem Tod fand man unter ihren Matratzen einen alten Strumpf, in dem ein Vermögen unangetastet dahinmoderte. Eigentlich erstaunte mich das nicht; es passte zu diesem rätselhaften kleinen Mann, der nun so scheinheilig in der Badewanne planschte! Wie ärmlich er getan hatte, nachdem er nach Basel gekommen war und sich in meinem Estrich eingenistet hatte – gratis, versteht sich. Dass ich nun auch noch den auf dem Bett liegenden Kittel mit dem merkwürdigen Futter näher untersuchte, war eine Eingebung meines Instinkts. Ich stiess auch da auf ein leise raschelndes Banknotenlager. Brändli schien mit grösster Selbstverständlichkeit als wandelnder Tresor herumzugehen. Und noch etwas anderes entdeckte ich in diesem Kleidungsstück, in einer mit Reissverschluss verschlossenen  gepolsterten Innentasche: einen Revolver!  Ich schlich mich schnell in mein Zimmer zurück und verkroch mich in Merets Bett. Es hätte keinen Sinn gemacht, mich jetzt anzukleiden, denn zuerst wollte auch ich mich erfrischen.

Kurze Zeit später hörte ich ihn aus dem Badezimmer in seine Kammer gehen, und es verstrichen nur wenige Minuten, bis er ausgehbereit in mein Zimmer trat. Mein Wissen darum, dass er im Futter seines Kittels ein Vermögen steckte, dazu eine gefährliche Schusswaffe, stimmte mich fast ein wenig heiter.

„Ah, du bist wach? Ich dachte schon, du würdest auch noch die nächste Nacht durchschlafen“, begrüsste er mich. Er erklärte mir, dass er heute abend ins Kino gehe. Ich zeigte kleine Lust, ihn zu begleiten; so liess er mich allein an jenem Abend. Natürlich hatte er sein Zimmer wieder abgeschlossen, und sicher auch seinen Kasten, in dem jetzt wohl sein kostbarer Hut lag.

Nach einem Bad unternahm ich einen kurzen Spaziergang, dann legte ich mich wieder zu Bett und schlief ein, bevor Brändli zurückgekehrt war.

Am anderen Morgen studierte ich den Wohnungsanzeiger, um mir möglichst schnell ein eigenes Zimmer zu mieten. Ich hatte Glück; schon aufs Neujahr konnte ich als Untermieter zu einer AHV-Rentnerin ziehen. Das Zimmer befand sich oben am Spalenberg, nur ein  paar Dutzend Schritte von meiner niedergebrannten Wohnung entfernt. Das war mir lieb, trotz der ständigen Erinnerung an die Katastrophe am Heiligen Abend. Dieses Altstadtquartier war mir ans Herz gewachsen, und ich war froh, Brändlis Wohnung entkommen zu sein. Die Nähe dieses Mannes konnte ich nicht mehr länger ertragen, obwohl er weder aufdringlich noch sonstwie nachweisbar eklig gewesen wäre. Aber aus seinem Verhalten konnte ich keine Zeichen der Trauer erfahren; das stiess mich ab. Ich hatte ihn ohne Streit verlassen. Merkwürdigerweise meldete er sich bei mir auch nicht mehr, und als ich ihn schliesslich doch einmal besuchen wollte, an einem Samstagnachmittag im Februar, stand seine Wohnung leer. Er war ausgezogen; die Wohnung war bereits an neue Mieter, ein junges Ehepaar, vergeben. Ich forschte noch ein wenig nach ihm, vergeblich; er schien sich aufgelöst zu haben. Obwohl mich das alles erstaunte, hatte ich vorerst nicht allzu viele Gedanken darüber verloren. Silvias Tod hatte mir  arg zugesetzt; die Gefühle  heftiger Trauer liessen vorerst keinen nüchternen Argwohn gegenüber Brändlis Verhalten zu. Erst als der Schock über die Brandkatastrophe allmählich nachgelassen hatte – und das dauerte Monate, ja Jahre! – begann ich, über Brändli kritisch nachzudenken. Wäre ich dazu früher fähig gewesen, wäre er vielleicht schon kurz nach dem Unglück verhaftet worden.

Einundzwanzigstes Kapitel

(…..)  Die leuchtenden Farben des Baumlaubs versanken in den schleichenden Nebeln des hereinbrechenden Abends. Die sich am gegenüberliegenden Ufer bewegenden Spaziergänger und Radfahrer glichen Spukgestalten, und die dahinter stehenden Häuser waren kaum mehr zu erkennen. Ich wunderte mich, dass die St. Alban-Fähre, die zum bereits unsichtbaren Gasthof „Zum goldenen Sternen“ führte, immer noch verkehrte; der Fährmann würde wegen der sich schnell ausbreitenden schlechten Sicht wohl nur noch die drüben wartenden Leute holen und dann den Betrieb einstellen. Nachdem ich unter der Wettsteinbrücke durchgegangen war, sah ich, dass auch die Münsterfähre immer noch über den Strom glitt.

Unten auf dem Fährsteg bemerkte ich eine dunkle Gestalt, die ganz vorn am Wasser stand. Der kleine Mann, dessen Kopf ein auffallend grosser Hut zierte, hatte ein mit einem Tuch umwickeltes, fest verschnürtes kleines Paket ins Wasser geworfen. Jetzt sah er sich um.

Vielleicht hatte er meine raschelnden Schritte gehört. Oder wollte er sich vergewissern, dass ihn niemand beobachtet hatte? Paul Ignaz Brändli war aufgetaucht! Er hatte mich nur kurz ins Auge gefasst, dann senkte er das Gesicht, das vom grossen, schwarzen Hut nun gänzlich verdeckt war. Während ich die Treppe hinunterstieg, getrieben vom Verlangen, meinen bisher unfassbaren Widersacher zu stellen, kam mir Brändli gemessenen Schrittes entgegen. Beim Uferbord, unten an der Treppe, standen wir einander gegenüber.

„Guten Abend, Louis“, sagte Paul Ignaz. Seine Stimme verriet weder Ueberraschung noch Verlegenheit. Sie wirkte unantastbar feierlich, wie so oft bei früheren Begegnungen. Ich musste daran denken, dass Silvia diesen Zwerg  früher für einen ehemaligen Priester gehalten hatte, und ich wunderte mich auch jetzt nicht darüber.

„Du hast ein Paket im Rhein versenkt“, versuchte ich ihn festzunageln. Dann hatte ich einen Einfall. „Ich nehme an“, sagte ich, „das war dein Revolver, den du all die Jahre auf dir getragen hast, unter deinem Kittel, den du auch im Sommer selten auszogst!“

Brändli bewahrte die Ruhe. Es schien ihm nicht daran gelegen, das Geheimnis zu vertuschen.

„Ich habe die Waffe versenkt, das stimmt“, bestätigte er, „ich benötige sie jetzt nicht mehr.“

„Wozu hast du sie gebraucht?“, fragte ich, erstaunt darüber, dass mir der Zwerg so bereitwillig Auskunft gab.

Brändlis Blick verweilte forschend auf meinem Gesicht, dann erwiderte er gelassen:

„Ich schleppte jahrelang mein Vermögen mit mir herum. Eine Belastung, die besondere Sicherheitsmassnahmen erforderte. Ich hatte mir dieses Geld, wie du inzwischen vielleicht auch schon herausgefunden hast, vor über dreissig Jahren bei einem Postraub angeeignet. Das war eine harte Sache, da war ich noch ein junger Mann. Die Waffe hatte ich schon damals benützt, um die Postbeamten einzuschüchtern. Ich hatte mich maskiert; ich ging keine unnötigen Risiken ein. Es war immerhin fast eine halbe Million. Und die habe ich mir sichergestellt. Kein Mensch hatte mich verdächtigt; ich blieb ein braver Bürger. Bis ich die Unvorsichtigkeit beging, zu heiraten. Meine erste Frau hatte mein vieles Geld und meine Waffe entdeckt. Sie wollte mich zwingen, das Geld der Post zurückzuerstatten, anonym, wie sie meinte. Sie war für mich das erste Sicherheitsrisiko. Sie verbrannte in unserer Wohnung am Murtensee, wo wir damals lebten.“

„Und dann kamst du nach Basel – und das Ganze wiederholte sich am Spalenberg“,  folgerte ich schaudernd.

Brändli sah mich flimmernd an. „Ja“, sagte er feierlich, und er befeuchtete mit der Zungenspitze seine Lippen, „das Ganze wiederholte sich. Meret hatte die Sache ebenfalls herausgefunden, und sie liess nicht locker. Sie wollte mich dazu bewegen, mich der Polizei zu stellen. Damit hätte sie mich ins Gefängnis gebracht und unsere Spalenberg-Stube gefährdet, in die ich immerhin hunderttausend Franken gesteckt hatte.“

„Aber die Spalenberg-Stube wurde ja trotzdem zerstört, durch den Brand, den du legtest. Und du hast Frauen ermordet.“

„Ich hatte nur noch die Wahl, meine Freiheit zu retten“, fuhr Brändli unbeirrt fort; „Meret war wirklich unbelehrbar. Es war ihre Schuld, es hätte nicht so herauskommen müssen, wäre sie nur vernünftig gewesen.“

„Und Silvia?! Was hat sie dir getan? Du bist nicht nur habgierig, du bist ein eiskalter Mörder, ein Schwerverbrecher!“ Meine Stimme überschlug sich; sie war heiser und dunkel geworden. Mein alter Schmerz schrie aus mir heraus.

Aber die Ruhe hatte Brändli auch jetzt nicht verlassen. „Ich hatte gehört, dass Meret Silvia zuvor Andeutungen über den Brand vom Murtensee gemacht hatte – und über meinen Postraub. Ich hatte Meret davon erzählt, nachdem sie mich in die Zange genommen hatte. Da musste ich etwas unternehmen, ich konnte nicht länger zuwarten. Der Heilige Abend brachte die geeignete Gelegenheit.“

„Das wirst du büssen!“ stiess ich hervor.

Brändli schüttelte bedächtig den Kopf mit dem grossen Hut. „Zu spät“, lächelte er, und sein Gesicht nahm einen süffisanten Ausdruck an; „zu spät. Sowohl der Postraub als auch die Brände am Murtensee und vom Spalenberg sind verjährt. Unsere Strafrechtsordnung schützt mich, das muss dir jeder Experte bestätigen. Da ist nichts zu machen. Und was könntest du schon beweisen?“

Mittlerweile war die Fähre eingetroffen. Ein junges Paar entstieg ihr mit einem grossen, schwarzen Hund, der sich knurrend gegen Brändli wandte. Dieser erhob die Hand mit beschwörender Geste, so dass das Tier von ihm wich und die Treppe der Uferböschung hinaufflüchtete. Würdig schritt der Zwerg nun über den Steg und liess sich vom Fährmann auf das schwankende Lärchenholzboot helfen. Ich fühlte mich wie festgenagelt, war unfähig, dem Unhold zu folgen. Ich hielt ihn für einen Sadisten. Der Postraub mochte ihm selber als Alibi dienen; die wahren Mordmotive waren in anderen Triebregionen zu suchen, davon war ich überzeugt.

Jetzt sah ich, wie der Fährmann das Schiffchen vom Steg abstiess, den Schwengel umlegte und ins Boot zurückeilte, um das Steuerruder in Position zu bringen. Brändli thronte draussen auf der Fährbank, das Gesicht dem Münsterhügel zugewandt.

Ich starrte dem langsam wegschaukelnden Boot nach, bis es am anderen Ufer anlangte. Dann beobachtete ich, wie der kleine Mann das Schiff verliess. Bald sah ich nur noch den hohen, schwarzen Hut, der im Nebel versickerte. Ich hatte versucht, dem Zwerg mit den Augen zu folgen, als er die Treppen zur Pfalz hinaufstieg, zum Münsterhügel mit seinen vermoderten Gräbern.

Aber Paul Ignaz Brändli schien sich aufgelöst zu haben. Er entschwand in den grauen Schwaden, eine Nebelgestalt, die meine Vergangenheit mit sich trug.

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Der Roman Der Wirt vom Spalenberg, aus dem hier Auszüge wiedergegeben sind, erschien 1979 im Mond-Buch Verlag, Basel, unter dem Pseudonym Georg Felix. Der Titel ist längst vergriffen. Das Copyright befindet sich beim Autor Felix Feigenwinter.

1981 wurde der Roman in der Basler AZ Abend-Zeitung als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht.

Die Münzkönigin steht Kopf

Auszüge aus dem 1978 geschriebenen Kriminalroman “Die Münzkönigin steht Kopf”

Von Felix Feigenwinter

Erstes Kapitel

An einem hellen, warmen Augustabend, mitten in der Woche, erreichte der Journalist Louis Wolf auf der Heimreise von einem Ferienaufenthalt in Apulien den Römer Flughafen. Seine Sinne waren noch verzaubert von der sonnendurchfluteten Landschaft des Südens, in der er die vergangenen Tage und Nächte verbracht hatte. Die Welt des grosstädtischen Flughafens erlebte er fast unwirklich. Schläfrig betrachtete er die bizarre Menschenmenge, die sich dort zusammenfand, und belustigt gewahrte er das Durcheinander von heiteren Touristen, geschäftigem Bodenpersonal und Leuten, die, wie ihre straffen Kleider und Mienen verrieten, nicht zum Vergnügen, sondern zur Erledigung gewichtiger Aufgaben reisten.

Da blieb sein Blick an einer eleganten und etwas exaltiert wirkenden jüngeren Frau haften, deren Erscheinung ihn heftig fessselte, bis er dahinter kam, dass ihm die Dame vertraut war.

Wartete dort nicht die französische Filmschauspielerin Françoise Hézard, die während Jahren als viel umschwärmtes Idol auch die Basler Kinos belebt hatte?

Sie war eine Reminiszenz aus seinem früheren Reporterleben, als er noch mit naiver Anfängerfreude auf Ereignisse aus war.

In einem jähen Anflug von Unternehmungslust, über die er sich später selber wunderte, eilte er der Schauspielerin entgegen. Er stellte sich als jenen Pressemann vor, der sie vor rund einem Jahrzehnt in seiner schweizerischen Wohnstadt Basel interviewt hatte.

“Ich sehe Sie noch genau vor mir”, sagte er, nachdem er sie lebhaft begrüsst hatte: “Eine Zwanzigjährige mit blondem, über die Schultern fallendem Haar. Sie wirkten ziemlich bleich damals, auch ein wenig melancholisch. Und gestresst. Sie trugen einen weinroten Wildledermantel, einen Rollkragenpullover – war er nicht grün, olivgrün? – und einen karierten Faltenjupe. Unglaublich, dass seither zehn Jahre vergangen sind…”

Françoise Hézard schien sich an ihren damaligen Auftritt in Basel kaum zu erinnern. Doch nachdem sie nachgedacht und Wolfs Gesicht mit ruhigem Blick geprüft hatte, lächelte sie: “Ich weiss, damals war ich ziemlich garstig. Ich musste in Warenhäusern Zigarettenpäcklein signieren – das Ganze fand ich lästig; aber die Gage war verlockend. Ich kam wegen des Geldes nach Basel.”

Wolf studierte sie sorgfältig. Die junge Frau schien voller und reifer geworden. Ihr Haar, das jetzt rötlich schimmerte, hatte sie zu einem schönen Knoten gebunden. Ihr Gesicht, das von einer Sonnenbrille beschattet war, wirkte sanfter, weniger trotzig als damals, vor zehn Jahren.

“Garstig waren Sie nur gegen die Herren vom Warenhaus”, berichtigte Wolf. “Nachdem Sie am Basler Bahnhof von drei Männern mit einem Blumenstrauss abgeholt worden waren – ich hatte alles aus der Ferne beobachtet – , schleppte man Sie in das Büro des Warenhausdirektors, wo Ihnen zu Ehren ein kleiner Empfang stattfand. Müde hatten Sie sich auf einen Stuhl gesetzt. Ihr Gesicht erstarrte zur Grimasse, sobald einer der Männer ein Gespräch anknüpfen wollte. Aber als ich Ihnen vorschlug, für ein Interview einen ungestörteren Ort aufzusuchen, gingen Sie sofort darauf ein. Das war alles andere als garstig, das war sehr zuvorkommend!”

Françoise musste lachen : “Ich benützte Ihre Einladung als Fluchtmöglichkeit. Als ich ins Warenhaus zurückkehrte, nachdem Sie mich eine Stunde lang für Ihre Zeitung ausgefragt hatten, war der Teufel los!”

Wolf grinste. “Die Warenhaus-Herren und der von der Zigarettenfirma beauftragte Manager waren verzweifelt”, sagte er. “Sie hatten befürchtet, Sie seien spurlos verschwunden!”

“Draussen wartete eine grosse Menschenmenge”, bestätigte der Star. “Ich musste an jenem Vormittag Zigarettenpäcklein signieren – und am Nachmittag ging die Reise weiter nach Zürich…”

“Der Zwischenfall hatte wirklich einigen Staub aufgewirbelt”, gab Wolf zu, “in der Boulevardpresse hatte man ihn spektakulär aufgebauscht.”

“Das Skandalöseste hatten Sie geschrieben!”, erinnerte sich jetzt Françoise. “Ich hatte Ihnen in jenem Garten-Restaurant, wohin Sie mich entführt hatten, erzählt…”

“Im Kunsthalle-Garten”, präzisierte Wolf, während er sich eine Cigarre anzündete. Es war ihm selber peinlich: Er ertappte sich beim ungeschickten Versuch, Françoise abzulenken, und der Gedanke, dass ihn die Schauspielerin dabei durchschauen könnte, verwirrte ihn.

“Wie bitte?”, hörte er sie fragen.

“Der Garten, in den wir damals gegangen waren, gehört zum Restaurant Kunsthalle. Es ist der Kunsthalle-Garten.”

“Ach so. Also, im Kunsthalle-Garten hatte ich Ihnen erzählt, dass ich selber nicht rauchte. Und Sie hatten das in der Zeitung geschrieben! Die Herren von der Zigarettenfabrik, mit der ich unter Vertrag stand, hatte dies sehr erbost. Dabei stimmte es sogar: Ich war damals Nichtraucherin  – und trotzdem hatte ich mich  für die Zigaretten-Werbung zur Verfügung gestellt.”

Wolf war froh, sich entschuldigen zu können. “Ich hielt das für einen besonders raffinierten Werbegag. Aber für Sie hatte sich der Abstecher in den Kunsthalle-Garten doch hoffentlich trotzdem gelohnt: Sie lernten dort ja auch Uz Kühn kennen!”

Uz Kühn war ein stadtbekannter Kunstmaler. Wolf und Françoise hatten ihn im Restaurant-Garten zufällig gesehen. Wolf kannte ihn schon damals gut; er hatte ihn der Schauspielerin vorgestellt, und es war ihm nicht entgangen, dass der Maler der Französin imponieren wollte. Heute wusste er, dass Kühn sie später mehrmals in Paris aufgesucht hatte. Verschiedene Frauenporträts, die Wolf in Kühns Ausstellungen der letzten Jahre gesehen hatte, wiesen darauf hin, dass sie sein Modell geworden war.

Françoise  zeigte sich nachdenklich.

“Uz Kühn”, sagte sie vorsichtig; “wie geht es ihm?”

Bevor Wolf antworten konnte, hallte durch die Lautsprecher die Aufforderung an die Reisenden in die Schweiz, das Flugzeug zu besteigen.

“Sie hören, ich muss leider gehen… Uz habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wenn Sie es wünschen, werde ich ihm gern einen Gruss von Ihnen ausrichten. Wohnen Sie immer noch in Paris? Es würde mich freuen, Sie einmal besuchen zu dürfen!”

Françoise Hézard zog eine Visitenkarte hervor; Wolf steckte sie in seine Hemdtasche.

“Auf Wiedersehen! Gute Reise!”

“Au revoir…”

Françoise Erkundigung nach Kühns Befinden wollte Wolf nicht aus den Ohren. Während des Fluges nach Basel wurde ihm bewusst, dass er den Maler seit Wochen, ja Monaten nicht mehr besucht hatte. An Kühn hatte es gewiss nicht gelegen. Wiederholt hatte er den Journalisten zum Essen eingeladen: Telefonisch, brieflich oder auf der Strasse, wo die beiden zufällig aufeinanderstiessen.Früher hatte er den Maler regelmässig besucht. Gewöhnlich an späten Sonntagabenden hatten sich die Männer zum Schachspiel getroffen. Kühns Frau war für Nachschub von frischem Kaffee und Schnäpsen besorgt gewesen, und manchmal hatte sie dem Spiel auch bis zum Anbruch des Morgendämmers zugeschaut.

An anderen Abenden hatten sich in Kühns Haus seltsam zusammengewürfelte Gästescharen eingefunden. Ueber jene Parties gab es in der Stadt verstohlene Gerüchte. Neben einer Gruppe aussenseiterischer Menschen, die sich aus Kühns persönlichem Bekanntenkreis zusammensetzte, fanden sich immer auch Kunsthändler und Gemäldesammler ein – darunter wohlbestallte, zum Teil prominente Persönlichkeiten. Bei derartigen Treffen hatte es der Maler verstanden, für ihn nützliche Gespräche um den Verkauf seiner Bilder anzuknüpfen. War dies geschehen, so überliess Kühn seine Gäste gerne seiner Frau; er zog sich in sein Atelier zurück, wo er stundenlang pinselte.

Früher  hatte Wolf an solchen Einladungen häufig teilgenommen. Neugierig hatte er sich an einflussreiche Gäste herangepirscht. Für ihn war es eine bequeme Gelegenheit, Beziehungen anzuknüpfen, die seine journalistische Arbeit befruchteten. Aber mit der Zeit erlahmte sein Interesse. Einige Leute begannen ihn anzuöden, und schliesslich musste er sich eingestehen, dass ihn auch das Verhalten von Kühn ärgerte. Theres war von der ihr aufgezwungenen Gastgeberrolle überfordert. Ihre Depressionen, die nicht mehr zu übersehen waren, schien der Maler zu kultivieren. Er brachte ihnen das seichte Interesse des Aestheten entgegen, der leidende Frauen, wie er maliziös zugab, um sich scharte, weil sie ihn inspirierten. “Sieht sie nicht wie ein Bild aus?”, sagten Gäste manchmal in Thereses Anwesenheit, und Kühn hatte befriedigt geschmunzelt.

Die Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher schreckte Wolf aus seinen Erinnerungen. Er schnallte sich fest und versuchte, aus dem ovalen Fensterchen zu spähen. Dicht unter ihm flog schief das Rheinknie vorbei; Basels Dächer breiteten sich aus.

Das erste, zu was es ihn nach seiner Ankunft im Flughafen drängte, war ein Telefonanruf in Kühns Haus: Er glaubte zu wissen, dass dies trotz der späten Stunde nicht als Störung empfunden wurde.

Die Stimme von Theres Kühn klang eigenartig belegt. “Seit vier Tagen ist Uz verschwunden”, sagte sie. Es hörte sich an, als ob sie aus einem tiefen Traum erwacht wäre. Wolf versprach, am nächsten Tag vorbeizukommen.

War nicht er es gewesen, der damals, vor über fünfzehn Jahren, sie mit Uz Kühn zusammengebracht hatte? War nicht auch er mitschuldig daran, dass Theres ihre Berufsausbildung abgebrochen hatte und jetzt in einer unglücklichen Ehe verharrte? Theres erschien Wolf wie ein lebendiger Vorwurf, der ihn bis ans Ende seines Lebens verfolgen könnte…

Zweites Kapitel

Wolf hatte sich angewöhnt, nach dem Aufstehen, bevor er werktags zur Redaktion fuhr, in einer Café-Bar in der Nähe des Bahnhofs zu frühstücken. Dort schnupperte er in den Zeitungen, und manchmal traf er eine Klatschtante, die ihm Neuigkeiten erzählte. Heute hatte er zwar immer noch Ferien. Dennoch zog es ihn relativ früh zum Bahnhof, wo er die neuesten Blätter kaufte, die er an der Café-Bar lesen wollte. Seine Verstimmung von gestern Nacht schien verflogen. Zwar fühlte er sich verschlafen und auf eine rätselhafte Weise wirklichkeitsentrückt: Basel kam ihm wie eine fremde Stadt vor, zu der er keine Beziehung verspürte, obwohl er die Strassen, durch die er gehen musste, um zum Bahnhof zu gelangen, natürlich genau kannte.

Die grauen Häuserfassaden liessen ihn kalt. Es gelang ihm auch nicht, unter den vorbeigehenden Menschen irgend ein bekanntes Gesicht zu erspähen, das ihm vertraut zugelacht hätte. Da waren die einheimischen Italiener und die deutschen und englischsprechenden Touristen, die ihn während seiner Ferien umgeben hatten, doch entschieden lebhafter und offener gewesen.

Aber heute morgen hatte er sich sorgfältig geduscht, rasiert und gekämmt. Den Ferienschlendrian wollte er sich vom ersten Tag an abgewöhnen. Er hatte auch, noch während er unter der Badebrause stand, beschlossen, seinen Kollegen auf der Redaktion guten Tag zu sagen.

Als er sich dem Café näherte, bemerkte er, noch bevor er das Lokal betreten hatte, durch die Glastür ein bekanntes Gesicht, dessen Anwesenheit ihn an diesem Ort zutiefst erstaunte. Da sass doch tatsächlich Françoise Hézard, die er noch gestern abend in Rom überraschend getroffen hatte! War sie nicht nach Paris geflogen? Oder hatte er dies nur angenommen, ohne zu merken, dass die Französin wie er das Flugzeug in die Schweiz bestiegen hatte? Aber was tat sie nur in Basel?

Wie vor den Kopf geschlagen steuerte er auf den neben der Schauspielerin noch freien Barhocker zu. Doch dann schreckte er von seinem Vorhaben augenblicklich zurück. Er bemerkte  nämlich, dass Françoise nicht allein war:

Neben ihr lehnte der Kunsthändler Rico Filbing.

Dieser Mann gehörte zum weiten Bekanntenkreis von Uz Kühn. Wolf verspürte kein Bedürfnis, mit ihm in näheren Kontakt zu treten. Nicht, dass der Typ ihn irgendwann einmal bewusst gekränkt hätte. Aber dem Journalisten war dieser Mensch schlicht unsympathisch. Es hatte ihm nie gefallen, wie er sich an Uz Kühn herangeschlichen hatte und ihm zu Kaufhauspreisen grosse Bilderposten abluchste, die er dann einzeln zu Liebhaberpreisen verkaufte.

Natürlich war Kühn, der in seiner mehr verspielten Art ja auch ein gerissener Kerl war, selber schuld, dass er sich auf einen solchen Händler einliess, den er früher eine zeitlang wie einen Freund behandelt hatte, bevor er hinter seine Schliche gekommen war. Und selbstverständlich war es Filbings Recht, seinen Handel möglichst gewinnbringend aufzuziehen. Aber die Schamlosigkeit, mit der er freundschaftliche Verhältnisse zu Malern ausnützte, stiess Wolf ab.

Er machte schnell kehrt. Weder Françoise noch Filbing schienen ihn bemerkt zu haben. Sein Frühstück nahm er heute in einem anderen Lokal in der Nähe ein. Das hatte den Vorteil, dass er das eigenartige Paar in der Café-Bar gegenüber ungesehen beobachten konnte.

Seltsam: Seit zehn Jahren war er Françoise Hézard, die er damals auch nur zufällig als Reporter kennengelernt hatte, nicht mehr begegnet – und nun sah er sie innert weniger Stunden gleich zweimal in zwei hunderte von Kilometern auseinanderliegenden Städten! Und das nicht einmal in Paris, wo sie wohnte!

Was führte sie nach Basel?

Hatte ihr Besuch gar mit dem Verschwinden Kühns zu tun, das Theres letzte Nacht am Telefon angedeutet hatte?

Aber warum hatte Françoise davon im Römer Flughafen nichts erwähnt, obwohl sie von Kühn gesprochen hatten? Welche Beziehungen hatte sie zu Filbing? Haben die beiden, so fuhr es Wolf durch den Kopf, ein Verhältnis? An diese Möglichkeit wollte er nicht so recht glauben. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass die doch gewiss sehr umworbene Schauspielerin ausgerechnet diesem Kerl ihre Gunst erweisen solle. Im übrigen schien, wie auch Aeusserungen in Kühns Haus immer wieder bestätigten, Filbing weder ein Frauenheld noch ein Frauenfreund zu sein. Oder schätzte Wolf Filbing falsch ein – oder Françoise Hézard?

Nun sah er die beiden aus der Café-Bar kommen. Da er sein Frühstück schon bezahlt hatte, konnte er ihnen sofort folgen. Sie überquerten die Strasse vor dem Bahnhof. Seine Vermutung, dass Filbing Françoise zum Zug nach Paris begleiten würde, bestätigte sich. Aus einem Versteck, das er sich in einer Telefonkabine einrichtete, beobachtete Wolf, wie sie sich verabschiedeten. Fast genüsslich bemerkte er, dass sie nichts Herzliches zu verbinden schien. Filbing war in einer aggressiven Weise gesprächig, und die Hézard hinterliess einen nervösen, fast gehässigen Eindruck. Ein Liebespaar war das kaum.

Drittes Kapitel

Und dann war da noch eine andere Begebenheit, die Wolfs Vorhaben, zu Theres Kühn zu fahren, um einige Stunden verzögerte.

Auf der Redaktion, die er nach seinem Abstecher beim Bahnhof aufgesucht hatte, begegnete er vielen nervösen Menschen. Diese Erfahrung wiederholte sich jedes Mal, wenn er aus den Ferien zurückkehrte. Da war er selber stets die ausgeglichenste Person, und alle andern schienen am Rand von Nervenzusammenbrüchen zu leben. Aber schon nach wenigen Tagen würde auch ihn der nervenkitzelnde Zeitungsbetrieb absorbiert haben, und er würde wie die anderen mit erhöhtem Blutdruck, fuchtelnden Armen und verzerrtem Gesichtsausdruck durch die Gänge eilen, Telefone abnehmen und in die Schreibmaschinentasten greifen. Für einen Aussenstehenden war es vermutlich ein abschreckendes Bild; aber als ein vom Zeitungsbetrieb Angefressener mochte er diesen aufwühlenden Stress nicht missen.

Möglich, dass er, wenn er älter würde, sich nach mehr Geruhsamkeit sehnen würde – dieses Bedürfnis ahnte er mehr abstrakt; er verspürte es noch nicht. Noch fand er Spass daran, in diesem Irrenhaus mitzuwirken und den Puls des öffentlichen Lebens sozusagen hautnah zu fühlen und auch zu beeinflussen.

Nach freundschaftlichen Wortwechseln mit seinen herumrasenden und ihre Schreibmaschinen malträtierenden Kollegen zog er sich in sein Büro zurück, wo er vorerst in den auf seinem Pult sich häufenden Papieren herumschnüffeln und später Theres Kühn anrufen wollte. Aber bevor er das tun konnte, meldete die Telefonistin auch schon den ersten Anruf für ihn.

“Louis? Du bist’s? Hier Isabelle. Wie geht’s? Was gibt’s Neues in Basel?”

Wolf war perplex: Da meldete sich Isabelle Raben, die frühere Redaktions-Assistentin dieser Zeitung! Nach einem Zerwürfnis mit dem Chefredaktor hatte sie sich zuerst nach Rom und später nach Paris abgesetzt, wo sie zu einer international beachteten Figur geworden war. Zum letzten Mal hatte sie Wolf vor vielleicht sechs Jahren auf der Basler Redaktion gesehen – nein, richtig: Einige Wochen später war sie dann nochmals in der Rio-Bar in der Begleitung von Uz Kühn aufgetaucht. Aber das war nur eine unscharfe Erinnerung an eine flüchtige Begegnung. Danach blieb sie für Wolf verschollen. Nur ab und zu hörte er ihre Stimme am Radio, las in einer französischen Zeitung ihre Artikel und erlebte sie zuhause am Fernsehschirm bald in einer Diskussionsrunde, bald in einer Talk-Show.

Kein Zweifel, Isabelle war eine gemachte Frau. Wolf anerkannte es neidlos. Beruflich hatte sie es weiter als er selber gebracht. Vor acht Jahren war sie noch seine Hilfsreporterin gewesen!

Dass sie nach einer derart langen Pause wieder bei ihm auftauchte, etwa so, als ob sie zusammen  noch gestern abend im Kino oder im Theater gewesen wären, rang ihm ein gerührtes Lächeln ab. Diese Anhänglichkeit war ihm vertraut. Sie stand in krassem Widerspruch zu ihrer steilen Berufslaufbahn, die keine Sentimentalitäten duldete. Es war, als ob sie sich in einem Winkel ihrer schillernden Seele einen Bereich aus der Kindheit bewahrt habe. Von den unbarmherzigen Stürmen des Existenzkampfes der letzten Jahre, der sie im Wettstreit mit den stärksten Männern in deren oberste Hierarchien geführt hatte, schien dieses Paradiesgärtchen verschont geblieben zu sein.

Ob es Isabelle auch so sah?

Es drängte Wolf, seine Empfindungen in ein Kompliment zu kleiden: “Während du dich im Ausland zu einer internationalen Berühmtheit emporgestrampelt hast, trete ich immer noch am gleichen Ort. Es ist für mich eine unverdiente Freude, als gewöhnlicher Sterblicher von dir jetzt sogar mit einem Telefonanruf beehrt zu werden!” Isabelle schien nicht zum Spassen aufgelegt. Sie überging Wolfs Redeschnörkel, der ironischer wirken mochte, als er gemeint war, und sie sagte sachlich, ohne Bissigkeit:

“Du scheinst immer noch der Alte zu sein. Kann ich dich irgendwo sehen?”

“Wo bist du?”

“Am französischen Bahnhof. Ich komme aus Paris. Kann ich dich auf der Redaktion treffen?”

“Natürlich… Wann?”

“Gleich jetzt.”

Wolf sagte aufgeregt zu. Er freute sich auf dieses Wiedersehen. In diabolischer Spannung sah er dem Zusammentreffen der ehemaligen Redaktions-Assistentin und heutigen Star-Publizistin mit dem Chefredaktor Springinsfeld entgegen. Denn Springinsfeld war es, der den Weggang der Raben auf dem Gewissen hatte, weil er sie nicht als hervorragend begabte junge Journalistin anerkannt und gefördert, sondern als billige Arbeitskraft für redaktionelle Hilfsdienste einzuspannen versucht hatte. Die brillant mehrsprachige, quirlige Isabelle (nach Wolfs Überzeugung ein seltenes Sprachgenie) entzog sich diesem Zugriff. Sie hatte gekündigt und war nach Rom gereist, wo sie schnell zur Starreporterin einer Frauenzeitschrift aufgestiegen war, bevor sie in Paris eine noch glänzendere Karriere machte.

Es verstrichen nur wenige Minuten, bis Isabelle im Verlagsgebäude eintraf. Wolf erwartete sie im Treppenhaus. Es gab einen stürmischen Empfang. Weiter oben, im Korridor,  raschelte eine nervöse Gestalt an ihnen vorbei. Es war der Chefredaktor Springinsfeld.

“Hallo, Chef, darf ich Ihnen unsere neue Redaktionsassistentin vorstellen?”

Springinsfeld hatte keinen Sinn für Neckereien. Er verschwand schnaubend in seinem Büro.

Wolf eilte ihm nach. “So einen kostbaren Besuch dürfen Sie nicht verpassen”, sagte er und schob Isabelle über die Türschwelle. Springinsfeld hatte soeben seine Fenster geöffnet. Der Luftzug richtete Böses an: Säuberlich über das Pult verteilte Manuskripte wirbelten auf, flatterten zu Boden und einige aus dem Fenster.

“Halt, halt, Türe zu!”, zeterte der Chefredaktor, doch es war zu spät. Feixend entkamen die Missetäter in den dunklen Korridor.

Nach diesem Erlebnis verspürte Wolf heftigen Hunger. Als ob Isabelle sein Bedürfnis erraten hätte, fragte sie:

“Gehen wir essen?”

“Wo?”

“Im Kunsthalle-Garten?”

Wolf passte der Vorschlag. Unter den buschigen Schirmen der Kastanienbäume liess sich geruhsam essen und plaudern. Einige sparsam im Sommergarten verteilte Bildhauerwerke verbreiteten die gediegene Atmosphäre öffentlicher Kunstpflege. Ganz in der Nähe, auf dem Theaterplatz, verspritzte der Brunnen von Jean Tinguely, eines berühmten Sohnes der Stadt, seinen Wassersegen.

“Noch ganz hübsch, nicht?”, sagte Louis Wolf, “unser Tinguely-Brunnen. So verspielt.”

Isabelle zeigte sich unbeeindruckt.

“Etwas brutal”, meinte sie, “dieses kantige Metall im Wasser… Hier möchte ich nicht baden.”

Viertes Kapitel

Wolf genoss es, mit Isabelle unter den schattigen Bäumen zu sitzen. Es wurde ihm bewusst, dass ihm noch fast vier Tage bevorstünden, an denen er über seine Zeit frei verfügen und keine Termine einzuhalten hatte. Seine Ferien würden noch bis zum nächsten Montag dauern. Frei von drängenden journalistischen Verpflichtungen, fast vollständig entspannt, betrachtete er, nachdem sie zusammen gespeist hatten, seine Gesprächspartnerin. Sollte er Isabelle seinen bevorstehenden Besuch bei Theres Kühn verraten, das kurze Telefongespräch, das er mit ihr gestern noch geführt hatte? Sollte er ihr, die Françoise Hézard vor sieben Jahren, wie sie ihm damals erzählt hatte, bei Uz Kühn getroffen und kennengelernt hatte, von seiner Begegnung in Rom berichten? Vielleicht hatte sie immer noch Verbindung zu ihr  – beide wohnten ja in Paris?

“Du siehst absolut zufrieden aus”, spöttelte Isabelle. Wolf zog seine Stirn in bekümmerte Falten, als ob er das Gegenteil beweisen wollte.

“Das Verschwinden von Kühn macht mir Sorge”, sagte er bewusst geheimnisvoll, um Isabelles Neugier zu wecken.

“Kühn?”, fragte sie, Wolf vermutete, nur scheinbar gleichgültig, “du meinst Uz Kühn? Er ist verschwunden, sagst du?”

In diesem Augenblick erschien der Kellner, um die leergegessenen Teller wegzutragen. Statt das Gesprächsthema fortzusetzen, bestellte Isabelle für sich und Wolf Kaffee.

“Und mir bitte ein Stück Apfelkuchen”, ergänzte der Journalist, “nimmst du auch eines – oder vielleicht einen Eiscoupe?”

“Nein, danke.”

“Oder einen Cognac?” – “Das schon eher…”

Wolf bestellte zwei Cognacs. Dass er mit Isabelle im Kunsthalle-Garten sass, war schliesslich nichts Alltägliches.

Er überlegte gerade, wie er das Gespräch wieder auf Kühn lenken könne, als er von weitem eine junge Dame heranschwirren sah: Yolanda, die Museumsfotografin, mit der er beruflich oberflächlich zu tun hatte. Sie setzte sich an ihren Tisch und begann zu tratschen. Ihr Redeschwall begrub das von Wolf angepeilte Thema “Kühn” vollständig. Da ihn ihre Art, Phantasie zu versprühen, immer wieder von neuem begeisterte, erhob er keinen Einspruch. Anderseits bemerkte er, dass Isabelle durch den Konversationswirbel der Fotografin merkwürdig irritiert war, fast gequält, wie jemand, der Ruhe sucht. Vielleicht war sie müde. Wolf nahm das alles aber nur traumhaft wahr, ein wenig abwesend, zumal die Erscheinung der Fotografin, die hier aus- und einging, ihn eher ablenkte von einem Vorhaben, dessen Umrisse ihm immer noch verschwommen vorkamen.

Zudem erblickte er nun ein Trio, das soeben in den Garten einbog. Hans Vollsand, Richard Bettweiler und Xaver Krachen, drei unzertrennliche Freunde, die ihm früher oft in Kühns Haus begegnet waren, suchten einen freien Tisch. Die drei Männer waren unverheiratet. Der eine war Professor der Jurisprudenz, der zweite Bibliothekar, und der dritte ein ewiger Philosophiestudent, der ab und zu Theaterkritiken schrieb. Das Trio sah man seit Jahren an Vernissagen, Theaterpremieren und Konzerten auftauchen. Dominante Gestalt war der Professor, der von seinen beiden ständigen Begleitern auch durch seine äussere Erscheinung abstach. Im Gegensatz zum vollbärtigen Philosophiestudenten, der allerdings im Stadtbild auch schon markant wirkte, hatte er bei näherem Hinsehen eine ausserordentlich spitze Nase, geradezu eine Schnabelnase. Wolf verglich ihn insgeheim mit einem Federvieh, dem viel daran lag, zwei untergeordneten Artgenossen unentwegt seinen Einfluss in der Gesellschaft vorzuführen, in die er sich aus unerklärlichen Gründen verirrt hatte und in der er sich ohne seine beiden artverwandten Begleiter unglücklich gefühlt hätte.

Wolf beobachtete jetzt, wie der Professor den soeben frei gewordenen Nachbartisch anpeilte, den er vor langsameren Gästen ergatterte und mit eitler Gebärde sicherstellte, bis seine beiden Begleiter den durch Stuhl- und Menschenbeine verstellten Weg ebenfalls überwunden hatten. Wolf erhob sich diskret, da er das Gespräch zwischen Yolanda und Isabelle nicht weiter stören wollte, obwohl die beiden Frauen ihn nicht ausdrücklich ausgeschlossen hatten. Er wechselte zum Tisch mit den unzertrennlichen Freunden. Ob sie in letzter Zeit bei Kühn gewesen waren? Dann wussten sie vielleicht Näheres über sein Verschwinden, das Theres am Telefon angedeutet hatte, und über Thereses Gesundheitszustand?

Der Professor war der erste, der den Journalisten begrüsste. Er winkte ihm in jener burschikosen Art zu, die kindlich gewordenen Greisen eigen ist, obwohl Hans Vollsand, wie Wolf vermutete, kaum älter als er selber war. Er gehörte sicher zu den jüngsten Universitätsprofessoren in dieser Stadt.

“Seht mal, wer da kommt”, machte der Jurist seine Begleiter auf das Erscheinen des ungebetenen Gastes aufmerksam. Seine Freundlichkeit wirkte gackernd-gespreizt.

Auch die beiden anderen schienen Wolfs Anwesenheit nicht unbedingt zu schätzen. Sie waren in ein Gespräch vertieft, das sie schon auf dem Weg zur Kunsthalle erregt zu haben schien, und Wolf hielten sie für eine Art Eindringling.

“Mit den Frauen macht es nicht immer Spass”, piepste der Bibliothekar. Er sagte es mit einem provokativen Unterton in der Stimme, vermutlich, um Wolf verstehen zu geben, dass ein Aussenstehener die Diskussion nicht zu stören imstande war.

“Liebe lässt sich nicht erzwingen”, salbaderte der ewige Student gelassener; “Vergewaltiger und andere Triebverbrecher sind eigentlich immer verhinderte Sexualbeglücker – und umgekehrt sind alle glücklich Liebende verhinderte Triebverbrecher. Glück in der Liebe, oder sagen wir es banaler: in der Triebbefriedigung, ist immer Glücksache.”

“Wenn ich erkenne”, ereiferte sich der empfindliche Bibliothekar, “dass eine Frau nicht mich persönlich, sondern mich als männliches Objekt zum Gebrauch meint und benützen will, ziehe ich mich zurück. Dann lieber Selbstbefriedigung, da bleibt man wenigstens souverän!”

“Wir unterhalten uns über den Orgasmus-Rummel, der gegenwärtig die Spalten gewisser Blätter füllt”, orientierte der Professor, dem es offenbar peinlich war, dass seine Freunde ihre delikaten Probleme vor dem Journalisten ausbreiteten.

“Objektiv muss wohl festgestellt werden”, versuchte Vollsand die Auseinandersetzung mit sachlicher Wissenschaftlichkeit zu schliessen, “dass die Menschheit die Probleme der Sexualität noch immer nicht gelöst hat, und somit auch nicht die damit zusammenhängenden Fragen der menschlichen Aggression. Die meisten sozialen und juristischen Fragen haben damit zu tun.”

Wolf grinste auf den Stockzähnen. Er hatte da offenbar die Schlussphase eines privaten Kollegs über unbewältigte Sexualität mitbekommen. Äusserlich hüllte er sich in gemessenes Schweigen. Er wollte die drei Freunde nicht verärgern. Heimlich spähte er zum Tisch, wo Isabelle und Yolanda lebhaft diskutierten.

“Sie fühlen sich wohl ausgeschlossen, mein Lieber?”, versuchte der ewige Student Wolfs Schweigen zu deuten.

“Nicht ausgeschlossen, lediglich etwas provoziert”, grinste nun Wolf.

“Oder desinteressiert?”, argwöhnte der Bibliothekar.

“Keinesfalls”, beschwichtigte Wolf, “da unterschätzen Sie die angeborene psychologische Neugier von uns Journalisten. Aber ich möchte auf Ihre sicher aufschlussreiche Auseinandersetzung jetzt trotzdem nicht näher eingehen, nachdem der Professor bereits ein markantes Schlusswort gesprochen hat. Etwas ganz anderes geht mir durch den Kopf” – Wolf versuchte, den Uebergang von der Ironie zum Ernst möglichst nahtlos zu gestalten – “nämlich eine Erinnerung: Haben wir uns zum letzten Mal nicht im Haus von Uz Kühn gesehen?”

Wolf hatte instinktiv ins Schwarze getroffen. Vor allem der Professor konnte seine Betroffenheit nicht verbergen. “Stimmt, stimmt”, babbelte er aufgeregt, vergeblich darum ringend, seine Ueberlegenheit wieder zu erlangen.

Seiner Stimme war anzuhören, dass es ihm da um eine äusserst ernste Angelegenheit ging, anders als beim Thema um die Sexualität von vorhin, das er offensichtlich vor allem seinen engagierteren Freunden zuliebe  diskutiert hatte. “Ich habe Sie schon lange nicht mehr bei Kühn gesehen”, nahm er den Dialog auf. “Sie waren früher doch öfters dort?”

Wolf entging es nicht, dass Vollsand von sich abzulenken versuchte, indem er zum Gegenangriff ausholte. Er war aber nicht im geringsten betroffen, denn dem Professor gegenüber fühlte er sich über seine Beziehung zum Ehepaar Kühn keiner Rechenschaft schuldig.

“Sie haben recht,” gab er offen zu; “zu viele Leute dort gingen mir einfach auf die Nerven!”

Jetzt räusperte sich der ewige Student. “Einmal hatte einer der Gäste”, berichtete er, “ein gewisser Hugo, die Hauskatze am Schwanz gepackt und mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert.”

Der Professor bestätigte diesen Vorfall. “Genau das ist der Grund, weshalb wir nicht mehr dort gewesen sind. Eine Ausnahme war die Vernissage vor zwei Wochen.”

“Vor zwei Wochen?”, wunderte sich Wolf, “da war ich in den Ferien. Erzählen Sie!”

“Kühn hatte eine Atelierausstellung”, informierte der Professor. Seine Stimme wirkte wieder unsicher. “Es wimmelte von Leuten. Leute zum Teil, die ich dort früher nie gesehen hatte. Ein   schwarzer Jazzmusiker, ein Pianist aus Paris  – sein Name ist mir im Moment entfallen –  dann ein italienischer oder Tessiner Bankdirektor. Merkwürdig…”

Des Professors Stimme versiegte. Er wirkte jetzt echt verwirrt. Irgend etwas schien ihn zu beschäftigen.

“Kühn selber war auch da?”

“Natürlich war Kühn anwesend, warum fragen Sie?”

“Und Rico Filbing,, haben Sie ihn gesehen?”

“Sie meinen den Kunsthändler?”, fragte der Bibliothekar, “Jaja, doch, der war auch dort.”

“Auch Françoise Hézard?”

“Françoise Hézard –  die Filmschauspielerin?”

“Genau die meine ich.”

“Soll die auch zum Bekanntenkreis von Uz Kühn gehören?”, staunte der Professor.

“Ja”, sagte Wolf, “sie ist sein Modell.”

“Sein Modell?!”, rief Richard Bettweiler lüstern.

Es war Wolf jetzt klar, dass Françoise Hézard an jener Vernissage nicht dabei war.

“Und Theres Kühn?”, forschte er weiter.

“Theres Kühn…” Wiederum verstummte der Professor. Er schien nun ernstlich verstört. Sein Blick, den er seinen Freunden zuwarf, und den diese kaum erwiderten, klammerte sich schliesslich an Louis Wolf.

“Theres Kühn”, holte er zu einem neuen Anlauf aus. Er befleissigte sich offensichtlich, den üblichen nüchternen Tonfall seiner dünnen Professorenstimme zu finden, “ja, sie war auch dort. Sie hat es schwer. Was soll man dazu sagen?”

Hans Vollsand versuchte zu lachen, aber es wirkte gekünstelt. Seine Besorgnis, woher sie auch rühren mochte, war nicht zu überhören.

“Kühn ist verschwunden”, sagte nun Wolf, “ich habe gestern nacht mit Theres Kühn telefoniert. Sie sagte mir, ihr Mann sei verschwunden. Seit einigen Tagen. Ihr scheint es nicht besonders gut zu gehen…”

Der Professor verzog sein Gesicht zu einer bedeutungsvollen Grimasse. Seine Betroffenheit konnte er nicht mehr überspielen. Hilflos blickte er zu seinen beiden Begleitern.

Louis Wolf schien es angemessen,  sich zu verabschieden. “Die Herren entschuldigen”, sagte er, als er sich erhob, um sich an den Nachbartisch zurückzuziehen. Dort schickte sich die Museumsfotografin eben an, aufzubrechen.

“Besuch mich in Paris”, hörte er Isabelle sagen.

Yolanda fragte Wolf: “War’s vergnüglich?” Sie deutete zum Tisch des Trios.

“Professor Vollsand und seine Freunde diskutierten unter anderem über Sexualität.”

“Schwachsinn”, schimpfte Isabelle; “dieses Zeug bringt uns nicht weiter! Und schon gar nicht, wenn es von Männern behandelt wird…”

“Mais non, mais non, il faut aimer les gens”, schwelgte Yolanda und schüttelte noch Wolfs Hand, bevor sie davonschwebte.

“Schon halb fünf!”, schrak Isabelle zusammen, nachdem sie auf die Uhr gesehen hatte, “wie man doch seine Zeit vertratschen kann!”

Wolf hatte sie noch fragen wollen, ob sie ihn zu Theres Kühn begleite. Aber angesichts ihrer plötzlichen Eile liess er es bleiben. Offenbar hatte sie einen für sie wichtigen Termin. Seinetwegen war sie bestimmt nicht nach Basel gekommen.

Nachdem sich die beiden verabschiedet hatten, Isabelle mit dem nicht unfreundlichen Hinweis darauf, dass sie sich morgen vermutlich noch einmal bei ihm melden würde, rief er ein Taxi herbei. Jetzt konnte ihn niemand mehr davon abhalten, zu Kühns Haus zu fahren.

Fünftes Kapitel

Die alte Villa befand sich ausserhalb der Stadt. Sie war eines der letzten Herrschaftshäuser aus dem 19. Jahrhundert, die nicht der grassierenden Abbruchwut zum Opfer gefallen war. Das Gebäude war ziemlich renovationsbedürftig geworden. Kühn hatte bisher nichts ausbessern lassen, abgesehen von einigen Innendekorationen, und ausser dem Dach, durch welches bei heftigem Regen das Wasser in den Estrich tropfte. Aber trotz seinem abgetakeltem Zustand wirkte das Haus immer noch feudal.

Kühn hatte die Liegenschaft von einem Kunstfreund günstig erworben. Hämische Gerüchte hatten damals in der Stadt zirkuliert. Die einen sprachen von einer homosexuellen Beziehung zwischen dem reichen Kunstsammler und Kühn, und andere glaubten zu wissen, dass Geschäftsmänner und andere einflussreiche Leute, die in der Folge bei Kühn ein- und ausgingen, ihr Interesse an einem originellen gesellschaftlichen Treffpunkt mit dem Entgegenkommen an einen ihnen zusagenden Künstler verbunden hätten. Die wahren Zusammenhänge waren auch für Wolf im Dunkeln geblieben; er hatte sich dafür nie besonders interessiert. Er nahm einfach an, dass Kühn, der schon damals zu den reputiertesten Künstlern in der Stadt gehörte, viele Bilder so teuer verkaufen konnte, was ihm ermöglichte, sich den Luxus eines herrschaftlichen Sitzes zu leisten.

Die Liegenschaft – zu ihr gehörte ein grosser, parkähnlicher Garten, der auf Kühns Wunsch weitgehend verwildert blieb – bestand auch noch aus zwei weiteren, kleineren Steingebäuden und einem Schopf. In dem einen Haus hatte Kühn sein Atelier eingerichtet. Im anderen Gebäude, das schräg hinter der Villa stand, hauste Beat Leier, ein ehemaliger Schreiner, der den Garten pflegte. Kühn hatte ihn vor vielen Jahren in einer Kneipe aufgelesen; seither wohnte der Mann im Gärtnerhaus.

Wolf wies den Taxichauffeur an, das Auto bis vor den Eingang der Villa zu fahren. Zu seinem Erstaunen stand die Haustür offen. Befremdlich war die Stille, die zu dieser Abendstunde die Liegenschaft umhüllte. Ueblicherweise drangen um diese Zeit Stimmen von Besuchern aus dem Salon im Erdgeschoss. Heute war alles stumm.

Wolf betrat das Haus und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Auch dort vernahm er keinen Laut, ausser den Geräuschen, die er selber verursachte. Auf sein Rufen reagierte niemand. Es war ja schon seltsam, dass die Kühns ihre wertvollen Möbel und Bilder, das kostbare Geschirr und die anderen Raritäten, die sich hier angesammelt hatten, im offenstehenden Haus unbewacht liessen, dachte er. Er erklomm die Treppe zum zweiten Stock, wo sich, wie er wusste, die Schlafgemächer befanden.

“Hallo, ist jemand da?” Er sah, dass eine Tür nur angelehnt war. Lauernd trat er hinzu. Er klopfte vorsichtig. Da hörte er ein leises Stöhnen.

Er schob die Tür ganz auf und entdeckte Theres Kühn auf ihrem Bett. Sie trug Tageskleider; die Vorhänge waren zugezogen, so dass sie im Dunkeln lag.

“Theres, ich bin’s, Louis!” sagte er laut und deutlich. Aber die Frau auf dem Bett antwortete nicht.

Als er sie näher betrachtete, bemerkte er, dass sie starr an ihm vorbeisah. Jetzt vernahm er ein leises Zischen. Sie atmete schwer, als ob sie am Ersticken wäre. Ihr Blick haftete an der Stelle, wo sich ein dünner Lichtstreifen bewegte, der zwischen den Vorhängen ins Zimmer drang.

“Kann ich Dir helfen?” flüsterte Wolf. Er hatte sich über die Kranke gebeugt, um sie besser verstehen zu können. Langsam hob sie den rechten Arm. Sie deutete gegen den kleinen Tisch, der an der gegenüberliegenden Wand stand

Wolf suchte die Tischplatte mit den Augen ab. Er sah darauf ein Buch und eine Vase mit welken Rosen stehen. Daneben bemerkte er eine Agenda. Diese nahm er zu sich. Er blätterte und fand eine Liste mit Telefonnummern.

“Soll ich telefonieren?” fragte er; “wem?”

Er las die Notizen. Dabei fiel ihm der Name “Dr. Hanno” auf. War das nicht Thereses Arzt? Zu Kühn hatte seinen Namen doch einmal erwähnt. “Soll ich Doktor Hanno anrufen?” fragte er.

Er stellte die Nummer ein. Eine Tonbandstimme meldete sich: “Hier ist die Praxis Dr. Hanno. Sie hören ein Tonband. Die Praxis ist zu den üblichen Zeiten geöffnet. Telefonisch können Sie mich morgens zwischen acht und zwölf und nachmittags zwischen zwei und fünf erreichen. Uebers Wochenende ist die Praxis geschlossen. Ich danke Ihnen für Ihren Anruf.”

“Eine Automatenstimme”, entfuhr es Wolf. Er sah, wie Theres gegen das Telefonbuch zeigte, das auf einer Kommode neben dem Telefon lag. Natürlich – Hannos Privatadresse! Ob er überhaupt zuhause war?

Wolf wählte die Nummer. Dann hörte er eine leise, trockene Stimme, die vorsichtig, beinahe abweisend klang. Der Psychiater meldete sich persönlich.

Wolf schilderte Thereses Zustand und bat den Arzt, so schnell als möglich vorbeizukommen. Aber Dr. Hanno liess sich nicht beeindrucken. “Sie soll morgen in meine Sprechstunde kommen”, sagte er.

“Das kann sie nicht”, beharrte Wolf, “sie ist schwer krank…”

“Rufen Sie einen Arzt”, meinte Dr. Hanno.

“Sie sind doch Arzt?!”

“Den Hausarzt”, erklärte den Psychiater.

“Den kenn’ ich nicht”, trotzte Wolf, “Thereses Mann ist nicht da. Ich bin ein Bekannter, der zufällig im Haus ist. Was soll ich tun – mit einer Schwerkranken?”

“Die Medizinische Gesellschaft kann Ihnen den Notfallarzt nennen”, informierte  Hanno; “sehen Sie im Telefonbuch unter ‘Medizinische Gesellschaft’ nach!” Damit war das Gespräch beendet.

Bis Wolf die Medizinische Gesellschaft herausgesucht und die Telefonnummer des Notfallarztes eruiert hatte, verstrichen weitere Minuten. Der Norfallarzt war, wie er befürchtet hatte, nicht zu Hause. Seine Frau oder Arztgehilfin versprach aber, sie würde ihn sofort benachrichtigen.

In Wahrheit verging noch fast eine Stunde, bis das Auto des Doktors vorfuhr. Wolf überlegte während dieser Zeit, ob er Theres nicht im Taxi in ein Spital fahren sollte – dann wieder machte er sich Selbstvorwürfe, dass er nicht schon gestern nacht oder wenigstens heute morgen hierhin gefahren war.

Der Doktor war ein unkomplizierter, wortkarger Mann, der Theres kurz untersuchte und ihre Einweisung in die Klinik veranlasste. Seine Diagnose: “Sie steht unter der Einwirkung von Drogen, wahrscheinlich von Heroin. Offenbar eine Ueberdosis. Sie scheint noch nicht lange süchtig zu sein; ich fand nur wenige Einstichstellen.”

Siebtes Kapitel

Am nächsten Morgen, es war Freitag, und Wolf hatte immer noch Ferien, wurde der Journalist durch einen Telefonanruf geweckt. Als er den Hörer ans Ohr hielt, vernahm er Isabelles Stimme.

“Schläfst du noch?”

“Wie du hörst, nein. Du hast mich geweckt – welche Zeit ist denn?”

“Neun Uhr”, meldete Isabelle.

“Nicht einmal in den Ferien kann man ausschlafen…”

“Entschuldige, ich wusste nicht, dass du ein Langschläfer bist.”

Blinzelnd forschte Wolf nach den Sonnenstrahlen, die zwischen den Vorhängen durchs Fenster drangen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, dass seine Kapuzinerkresse verdorrt war.

“Hast du dich von gestern erholt?” hörte er Isabelle fragen. Ihr Spott entging ihm nicht.

“Erholt?”, fragte er und bezog ihre Frage auf seinen Besuch bei Theres Kühn. Doch dann fiel ihm ein, dass Isabelle davon nichts wissen konnte. “Ich war gestern abend bei den Kühns draussen.  Schrecklich! Ich fand Theres halb tot im Bett; der Arzt, den ich herbeigerufen hatte, diagnostizierte eine Überdosis Drogen.”

“Heroin”, sagte Isabelle.

“Heroin – tatsächlich! Wie du das so sagst… Der Arzt vermutete es auch.”

“Und Kühn? Was sagte er? Hast du ihn gesehen?”

“Uz? Der war nirgends – der ist verschollen!”

Wolf fühlte sich plötzlich hellwach.

“Aber Rico Filbing habe ich gesehen”, sagte er, ” ein merkwürdiger Vogel. Er schaffte dutzendweise Bilder aus Kühns Atelier. Angeblich hat ihn Uz damit beauftragt. Das Ganze kam mir suspekt vor…

“Mir schon lange.”

“Wie bitte?”

“Es ist schon lange suspekt, meine ich”, sagte Isabelle.

“Wie meinst du das?”

“Ach, dieser Kühn, sein Opferlamm Theres, dieser obskure Filbing, die blasierten und obskuren Gäste, die in dem Haus ein- und ausgehen…das Ganze ist doch dégoutant!”

Wolf wusste nicht recht, was antworten. Einen Augenblick lang fühlte er sich persönlich betroffen – er gehörte ja lange Zeit auch zu Kühns Gästen, auch wenn er sich mit manchen Leuten, die dort verkehrten, nicht identifizieren mochte.

“Du gingst doch früher bei Kühn auch wacker ein und aus”, sagte er.

“Nicht allzu lange”, meinte Isabelle. Und dann: “Wollen wir zusammen frühstücken, bevor ich abreise?”

“Du verlässt uns schon wieder? Wann? Noch heute?”

“Ja”.

“Eigentlich wollte ich heute morgen nochmals zu Kühns Haus.”

“Soll ich mitkommen?”

“Gern, in einer halben Stunde bin ich geduscht und rasiert. Komm doch direkt dorthin. Wir treffen uns in Kühns Garten, vor dem Eingang der Villa.”

In zwanzig Minuten bestieg er in der Nähe der Strasse, wo er wohnte, ein Taxi. Zehn Minuten später betrat er Kühns Garten.

In der hellen Morgensonne wirkte er freundlicher als gestern abend. Die Schatten waren kürzer, und das Blättergrün der Bäume und Sträucher versetzte Wolf in eine heitere Stimmung. Auch die Villa sah von der Sonne beschienen heiter, geradezu festlich aus.

Isabelle war offenbar noch nicht eingetroffen; vor dem Haus sah er sich vergeblich nach ihr um. Nach etwa fünf Minuten hörte er draussen vor dem Garten ein Auto anhalten, und kurz darauf konnte er beobachten, wie die Erwartete um die Ecke kam. Sie hatte den Kiesweg verlassen, um über den Rasen eine Abkürzung einzuschlagen. Nun sah er sie zwischen den Büschen und Bäumen auf eine Böschung steigen – doch plötzlich hörte er einen Schrei… Isabelle war verschwunden! Ungläubig starrte Wolf in jene Richtung, wo er sie noch vor einigen Sekunden über den Rasen schreiten sah – und jetzt bot sich ihm ein merkwürdiges Bild:

Zuerst erschien ein Schuh auf der Böschung, dann Isabelles Tasche, eine Hand, und schliesslich sah er ihren Kopf aus der Erde ragen.

Er rannte ihr entgegen. “Was ist denn?”, fragte er, “was ist passiert?”

Sie stand bereits wieder auf dem Rasen. Energisch wischte sie sich Erde vom Sommerrock.

“Eine Fallgrube!”, schimpfte sie.

“Eine Fallgrube?” Wolf staunte.

“Hier, ein Loch! Da bin ich reingefallen!”

Jetzt sah er es auch: Ein vielleicht ein Meter breiter und doppelt so langer Graben klaffte in der Wiese. Darüber hatte jemand frische Aeste mit grünem Laub gelegt, die nun zum Teil durch Isabelles Fall eingeknickt waren. Merkwürdigerweise konnte Wolf,  obwohl die Grube frisch aussah, in der Nähe keinen Haufen mit ausgehobener Erde entdecken; ein Umstand, der ihm zu denken gab.

“Eigenartig”, murmelte er und stützte Isabelles linken Arm, damit sie sich den abgefallenen Schuh anziehen konnte. Der Sturz hatte ihr offensichtlich zugesetzt; sie wirkte aufgewühlt. Ihr Arm zitterte spürbar.

“Bist du verletzt?”, fragte Wolf.

“Ich spüre nichts”, sagte Isabelle; “es ist der Schreck, zum Teufel. Was machen wir jetzt?”

“Wir gehen zu Herrn Leier – du kennst ihn vermutlich, er wohnt dort im Gärtnerhaus. Ich möchte mit ihm wegen Kühn reden, vielleicht weiss er, wo der steckt. Komisch, heute ist die Villa wieder abgeschlossen – gestern abend noch stand sie sperrangelweit offen.”

Bevor er mit Isabelle zum Gärtnerhaus ging, ordnete er die Aeste so gut es ging über der Grube.

Neuntes Kapitel

Nachdem Wolf die Haustür abgeschlossen hatte, vermied er es, direkt zum Gärtnerhaus zurückzukehren. Er schlug den Weg ein, der hinter die Villa führte. Als er vorhin im Garten das Paar getroffen hatte, war ihm etwas aufgefallen, was er jetzt in Ruhe studieren wollte: Durch den Lattenverschlag des Schopfes, der hinter der Villa stand, hatte er zwei Schubkarren entdeckt, in welchen er frische Erde zu sehen geglaubt hatte.

Als er nun nochmals in das Dunkel des Schopfes spähte, schien sich sein erster Eindruck zu bestätigen. Da er aber immer noch nicht ganz sicher war, öffnete er die mit einem eingeschobenen Holzriegel verrammelte Tür. Tatsächlich: Da standen zwei Schubkarren, beide angefüllt mit offenbar frisch ausgehobener Erde. Natürlich dachte Wolf sofort an die geheimnisvolle Grube, in welche Isabelle vor einer halben Stunde gestürzt war, und als er die im tiefen Schatten sich abzeichnenden übrigen Gegenstände  zu erkennen versuchte, blieb sein Blick an einem Ding haften, das ihn mit Unbehagen erfüllte. Seine Abwehr, über deren konkrete Ursache er sich in diesem Augenblick noch keineswegs im klaren war, führte dazu, dass er einen Schritt zurückwich – aber gleichzeitig beugte er sich vor und sperrte angestrengt die Augen auf.

Da hing ein beschuhter Fuss unter einem groben Sacktuch hervor, das einen ungleichförmigen, länglichen Gegenstand bedeckte, der sich etwa einen halben Meter vom Boden abhob.

Wolf trat hinzu und hob das Tuch mit einer heftigen Bewegung zur Seite.

Im Schummerlicht des Schopfes, an das er sich inzwischen gewöhnt hatte, zeichneten sich die Umrisse eines menschlichen Körpers ab, der in einen Schubkarren gepresst schien. Wolf starrte auf ein aufgedunsen fahles Gesicht, dessen linke obere Stirnseite von einem in den Schopf dringenden Sonnenstrahl erhellt wurde.

Nachdem er die Leichenfratze einige Sekunden lang betrachtet hatte, warf er das Sacktuch über den leblosen Körper zurück und hastete hinaus. Es schien ihm wichtig, dass er hier niemandem begegnete. Die Tür verriegelte er. Nun rannte er, so schnell er konnte, auf dem Weg, auf welchem er gekommen war, um die Villa herum. Er war bestrebt, möglichst viel Zeit zu gewinnen, um ungesehen zum Vordereingang der Villa zu gelangen. Von dort aus wollte er zum Gärtnerhaus zurückkehren.

Vor dem grossen Haus setzte er sich aber auf die Eingangstreppe, um seinen Atem zu beruhigen und das Erlebte zu überdenken. Die Leiche musste schon einige Tage alt sein; ihr Gesicht und die Hände hatten verdächtig entstellt gewirkt. Zudem hatte sie einen penetranten, fauligen Geruch ausgeströmt. Schon als er zum erstenmal am Schopf vorbeigegangen war, hatte er den Gestank wahrgenonmmen, der sich mit dem Duft der Blumen im Garten vermischte. Wolf hatte vorerst die Ausdünstung einer ihm unbekannten Pflanze oder eines Düngers vermutet. Später dachte er, dass irgendwo im Gebüsch eine Tierleiche liegen könnte. Mit dem hier hatte er nicht gerechnet.

Es war nun höchste Zeit, zum Gärtnerhaus aufzubrechen. Er hielt es für klüger, seine Entdeckung vorläufig für sich zu behalten und keinen Verdacht durch allzu langes Fortbleiben zu wecken. Als er aufs kleine Gebäude zuschritt, gewahrte er, dass ihn Beat Leier und Isabelle bereits ungeduldig erwarteten.

Sie hatten es in Leiers Zimmer nicht länger ausgehalten und standen unruhig vor dem Haus. Wolf musste sich überwinden, um sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. (…..)

Vierzehntes Kapitel

(…..) Wolf ging ins Restaurant zurück, zum Telefon. Die Aerztin hatte die Information eingeholt. “Der erste Tote, der heute morgen  eingeliefert wurde, ist eine männliche Leiche”, berichtete sie; “der Mann ist an einem sehr schnell wirkenden Gift gestorben, das er in Wein aufgelöst zu sich genommen hat. Die Dosis war gering, nur wenige Milligramm, aber sie genügte. Er starb innert weniger Sekunden infolge Atemlähmung. Vermutlich trat der Tod noch gestern kurz vor Mitternacht ein…”

“Und der zweite Tote?”, fragte Wolf gespannt. Es war ihm klar, dass die ältere Leiche, jene von Kühn, einige Stunden später im Institut eingetroffen war als die frischere von Filbing.

“Die Obduktion ist noch im Gang”, sagte die Aerztin, “aber es lässt sich schon so viel sagen, dass diese – übrigens ebenfalls männliche – Leiche einige Tage alt ist. Bei der Einlieferung befand sie sich in fortgeschrittenem Fäulniszustand, dies natürlich auch wegen des warmen Wetters. Die Totenstarre war schon weitgehend gelöst.”

“Die Todesursache?”

“Die gleiche wie bei der ersten Leiche. Schnelle Atemlähmung, dieselbe geringe Dosis des selben starken Giftes, das noch genau eruiert werden muss. Ebenfalls in Wein gelöst.”

“Käme Selbstmord in Frage?”

Wolf hörte die Aerztin laut auflachen. “Spielst du Detektiv?”, meinte sie gutmütig. Dann, auf seine Frage eingehend:

“Das müssen nicht wir feststellen, da wir in diesen Fällen keine Verletzungen durch äussere Gewaltanwendung nachweisen können. Da müsstest du dich schon an die Kriminalpolizei wenden, oder vielleicht an einen Psychiater…”

Gelöst verliess Wolf das Restaurationsgebäude. Jetzt schien bewiesen, dass Kühn und Filbing durch die genau gleiche Weise vergiftet worden waren. Drängte diese Feststellung nicht die Folgerung auf, dass nur noch nach einem einzigen Mörder gesucht werden musste? Damit schien auch endlich klargestellt, dass  Beat Leier, den Karren verhaften liess, als Täter überhaupt nicht mehr in Frage kam: Er hatte für die Nacht, in der Filbing ermordet worden war, ein einwandfreies Alibi, und Theres Kühn befand sich zu jener Zeit sowieso bereits in der Klinik. Der Mörder ging also, wie es Wolf immer geahnt hatte, nach wie vor frei herum!

Als der Journalist am Spielplatz vorbeikam, winkte er Anita Leier fröhlich zu. Die junge Frau nickte zurück. Ihr Gesicht hatte, wie ihm jetzt auffiel, immer noch den ernsten, besorgten Ausdruck, was seine heitere Laune dämpfte.

Fünfzehntes Kapitel

Als er eine halbe Stunde später im Stadtinnern, auf dem Barfüsserplatz, stand, fragte sich Wolf, ob er schon nach Hause gehen sollte. Dort lockte ein interessantes Fernseh-Programm. Unter anderem war ein französischer Spielfilm angekündigt, in dem Wolf Françoise Hézard in einer Nebenrolle vermutete. Aber vorerst verspürte er Lust, sich unter wirkliche Menschen zu setzen und ein Bier zu trinken. Von den drei Möglichkeiten, die er dabei erwog (Boulevard-Café vor dem Stadtcasino, Kunsthalle-Garten oder seine frühere Stamm-Bar beim Barfüsserplatz) entschied er sich für die Bar. Noch als er auf das Lokal zusteuerte, wunderte er sich über seine Wahl – denn er war sonst ein Mensch, der sich im Zweifelsfall stets für den Aufenthalt an frischer Luft entschied.  (In der Redaktion beschwerten sich Kollegen und Sekretärinnen, die sein Büro betraten, seit Jahren vergeblich darüber, dass er sogar bei kaltem Winterwetter seine Bürofenster stundenlang sperrangelweit offen liess. Nur der Verlagsdirektor hatte dagegen nichts einzuwenden, weil Wolf dabei, um keine Energie zu verschwenden, die Heizung abstellte und in Wolljacke und Schal zu arbeiten pflegte.)

Als er das wegen des schönen und immer noch warmen Sommerabends nur dürftig besuchte Lokal betrat, fühlte er aber, dass sein Entscheid richtig war. Er setzte sich an die Theke und bestellte ein Bier.

Die Frau, die es ihm einschenkte, trug ein weites Décolleté; ihr mächtiger Busen, den Spuren sanfter Welknis zeichneten, erinnerte ihn an verwitterte Skulpturen von Fruchtbarkeitsgöttinnen vorchristlicher Zeiten.

Er war dieser Barfrau schon früher begegnet, irgendwo, vermutlich an einer anderen Theke, vor vielen Jahren, als er noch Student gewesen war… Ihr ursprünglich differenziert suchender Ausdruck war jener lächelnder Resignation gewichen.

Jetzt überwältigte Wolf sekundenkurz eine Vision, die ihn erst recht verwirrte: Im Hintergrund des Lokals, in einer Nische, die vom künstlichen Licht nur unwirklich beleuchtet schien, zeichneten sich mit erschreckender Deutlichkeit die Umrisse des Gesichts von Uz Kühn ab. Eine bange Sekunde lang spürte der Journalist, wie das Klopfen seines Herzens ausblieb. Die Bardame schien sein Entsetzen bemerkt zu haben. Sie wandte sich zu jener Nische, in welcher Wolf die rätselhafte Erscheinung wahrgenommen hatte. Sie fragte laut:

“Willst du noch ein Bier, Roger?”

Erleichtert stellte Wolf fest, dass er einer Täuschung verfallen war: Kühns Gesichtszüge verwandelten sich in jene eines gewöhnlichen, ihm unbekannten Gastes, der dort hinten hockte und der Bardame mit “Ja, Regine, noch einen Becher!” antwortete. Mit einem leicht amüsierten Staunen gewahrte der Journalist, dass dieser Kerl nun sogar flüchtig Filbing glich!

Wolf atmete auf. Was war nur mit ihm los? Hatten ihm die Ereignisse der letzten Tage derart zugesetzt, dass er Gespenster sah? War er krank, am Rand eines Zusammenbruchs?

Doch jetzt hatte er eine Erleuchtung, die ihm als natürliche Folge der psychischen Spannungen erschien, die sich in ihm seit Stunden zusammenballten: Er erinnerte sich an eine Begegnung, die Jahre zurücklag. Er hatte ebenfalls an dieser Theke gesessen. Und genau an jener Stelle, wo der Mann hockte, den er vorhin mit Uz Kühn verwechselte, hatte er  Kühn wirklich gesehen. Neben dem Maler hatte damals Isabelle gesessen. Das war, kurz bevor Isabelle nach Rom verschwunden war, vor sechs Jahren.

Isabelle – das war es also!

Kühn bezahlte sein Bier und verliess die Bar.

Als er zuhause in seiner Wohnung anlangte, wusste er, dass er morgen früh nach Paris reisen würde.

Françoise – Filbing – Isabelle – Kühn … waren das nicht die Zusammenhänge, nach denen er so krampfhaft gesucht hatte und die er übersehen, verdrängen, nicht wahrhaben wollte?

Die Spur des Mörders musste nach Paris führen, zu Françoise, zu Isabelle! Die beiden Frauen mussten über die Ermordeten mehr wissen als der findigste Untersuchungsbeamte. Das war eine Spur, die sich Karren entzog.

Sechzehntes Kapitel

Als Wolf frühmorgens   – es war ein Samstag – den Zug nach Paris bestieg, begann für ihn die Fahrt ins Ungewisse. Jetzt liess er sich nicht durch den Verstand, sondern durch seinen Instinkt leiten, auf den er sich als Jounalist so oft stützte, wenn es darum ging, verborgenen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen. Und so nahm er es sogar bewusst auf sich, unkorrekt zu handeln. War es nicht dreist, die Schlüssel, die er im Atelier des vergifteten Malers gefunden hatte, statt der Kriminalpolizei anzuvertrauen mit sich herumzutragen? Entführte er nicht das möglicherweise einzige Beweisstück, das den Mörder hätte überführen können?

Aber am nächsten Montagmorgen hatte er sich in Basel mit dem Kriminalkommissar Karren, seinem früheren Schulfreund, verabredet, und da könnte er vieles klären. Bis dann würde er, so hoffte er, auch viel mehr über Françoise Hézard und ihre rätselhafte Beziehung zu Filbing erfahren haben – und über die Beziehung zwischen Isabelle Raben und Uz Kühn. Wieso misstraute er Françoise? Nur weil sie am Donnerstagmorgen in Basel Filbing getroffen hatte? Dieser Mann war keine 24 Stunden später tot – an der gleichen Ursache gestorben wie wenige Tage zuvor Kühn, dem Françoise früher Modell gestanden war… Und Isabelle? Warum war sie überhaupt nach Basel gekommen, in die Mordgeschichte hineingeplatzt? Auch sie kannte Zu Kühn, und Theres, wie übrigens auch Françoise, von früher her… Gingen seine Gedanken wieder einmal im Kreis herum?

Während der Fahrt durchs Elsass begann Wolf sein eigensinniges Vorgehen, das auf düsteren Ahnungen beruhte, erneut in Frage zu stellen. Nun sah er sich plötzlich als einen wirren und vielleicht sogar schon irren Mann, der seit einigen Tagen beschäftigt war, durch halb Europa zu reisen und überall, wo er hin kam – in Rom, Basel, Paris – Menschen zu begegnen, die in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Tod seines Bekannten Kühn und dessen Hausfreund Filbing verwickelt schienen…

Litt er an Verfolgungswahn, war er vielleicht schon übergeschnappt? Oder hatte er sich einfach verrannt – weil er die wirklichen Zusammenhänge nicht erkannte, nicht erkennen konnte?

Vorläufig wollte er nicht weitergrübeln. Eigensinnig betastete er die Brusttasche seines frischen Hemdes, das er heute morgen übergestreift hatte. Darin fühlte er den Schlüssel und das kleine rote Etui, in dem sich zwei weitere Schlüssel befanden – der Fund aus Kühns Atelier! Sein Geheimnis, an das er sich klammerte. Irgend jemand musste es mit ihm teilen. Dieser jemand würde wahrscheinlich mit Todesverachtung darauf bedacht sein, die Schlüssel wieder zu bekommen. Vielleicht war dieser jemand inzwischen bereits in Kühns Atelier gewesen, hatte verzweifelt nach ihnen gesucht…und sie nicht gefunden, weil er, Wolf, sie rechtzeitig zu sich genommen hatte.

Ausser den Schlüsseln aus dem Maleratelier betastete er Françoise Visitenkarte, die er gestern abend ebenfalls in die Hemdtasche gesteckt hatte, und  ausserdem ein kleines, zerknittertes Stück Zeitungspapier, auf welches er vorgestern Isabelles Adresse gekritzelt hatte. Er fühlte sich gut gerüstet. Gelassen wollte er jetzt abwarten, was ihm Paris bescheren würde.

(…..)

Neunzehntes Kapitel

(…..) Als Wolf das Büro des Chefredaktors verliess, konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken. Springinsfelds Eitelkeit liess es nicht zu, auf die Veröffentlichung des Fotos zu verzichten, das ihn zusammen mit einem Regierungsrat und einer internationalen Bankgrösse am Begräbnis des Heroinhändlers zeigte…

Der Nachmittag verstrich im Nu. Als Wolf seine Arbeit beendete, war schon bald sieben Uhr. In einem Taxi jagte er zum chinesischen Restaurant, wo er mit Hans Karren bereits auf halb sieben abgemacht hatte. Als er sich im Restaurant an den reservierten Zweiertisch führen liess, erfuhr er vom Kellner, dass sich auch Karren verspätet habe. Wolf wartete etwa zehn Minuten, und dann bestellte er schon einmal das Getränk und eine Haifischflossensuppe, um nicht tatenlos herumsitzen zu müssen. Nachdem er die heisse Brühe, an der er sich vorerst die Zunge verbrannte, etwas abgekühlt hatte, verspeiste er sie vorsichtig. Von Karren war noch nichts zu sehen.

Wolfs Geduld liess sich strapazieren. Er sagte sich, dass ein unvorgesehener Zwischenfall einen Kriminalkommissar von der Einhaltung eines Termins ebenso gut abhalten könne wie beispielsweise einen Journalisten. Aber halb acht Uhr war jetzt vorbei; vor über einer Stunde hatte er sich mit ihm treffen wollen. Was Wolf ärgerte, war nicht einmal die enorme Verspätung des Kommissars, die zwingende Gründe haben mochte, sondern die Tatsache, dass Karren ihn darüber nicht verständigt hatte. Ob er es einfach vergessen hatte? Oder ob er das Gespräch mit ihm für den weiteren Verlauf der Untersuchung für unwesentlich hielt, was natürlich eine grobe Fehleinschätzung war, wie Wolf seit gestern wusste? Der alte Groll, der dem Journalisten schon vor drei Tagen aufgestiegen war, nachdem Karren Beat Leier hatte verhaften lassen, überwältigte ihn für einen Augenblick. Doch diesmal war er nicht mit einem Ohnmachtsgefühl vermischt. Er empfand im Gegenteil mächtigen Triumph. Wolf war sicher, dass er im Augenblick der einzige war, der die Mordfälle Kühn und Filbing bis fast ins hinterste Detail kannte und begriff – ausser Isabelle natürlich. Da war es von Karren schlicht töricht, auf das Treffen mit ihm zu verzichten, seine Zuständigkeit in dieser Sache zu ignorieren. Ob er vielleicht seinen Fehlentscheid bezüglich von Leiers Verhaftung als Blamage empfand, sie Wolf nicht eingestehen mochte und sich deshalb vor einer Begegnung mit ihm drückte? Aber dann hätte er sich doch eine Entschuldigung ausgedacht und ihn rechtzeitig benachrichtigt!

Wolf sann diesen Möglichkeiten nach. Er überlegte, ob er versuchen solle, Karren in seinem Büro oder zuhause zu erreichen, um herauszufinden, ob ein längeres Ausharren überhaupt sinnvoll sei. Aber da wurden auch schon die weiteren Speisen aufgetragen, die er schliesslich bestellt hatte, um die Wartezeit zu verkürzen. Noch bevor er sich anschickte, sich über sie herzumachen, ging er zur Telefonkabine, um Karren anzurufen. Er wählte seine private Nummer.

Die Frauenstimme, die sich meldete, gehörte offenbar Frau Karren. Sie wirkte aufgelöst, in einer erschreckenden Weise verzweifelt. Schliesslich gewahrte er, dass Frau Karren heftig schluchzte.

“Hans ist tot”, sagte sie, und dann nochmals: “Hans ist tot, er ist tot, sie haben ihn gefunden.”

Dann war Stille. Hierauf meldete sich eine Männerstimme:

“Wer ist da?”

“Wolf”,  antwortete Wolf, “Louis Wolf. Was ist los, um Himmels Willen? Ich habe mich mit Herrn Karren verabredet, um halb sieben. Jetzt ist  bald acht;  da dachte ich, ich rufe einmal an…”

“Herr Karren ist tot aufgefunden worden”, sagte die Männerstimme; sie gehörte offenbar einem Beamten, einem Kollegen von Karren: “Um fünf Uhr ist er an der Bar im Stadtcasino zusammengebrochen. Es muss eine unbekannte Frau bei ihm gewesen sein; sie ist spurlos verschwunden. Wir schicken allen Zeitungen, auch Ihnen, ein Signalement dieser Frau. Wir werden es Ihnen noch heute nacht zustellen. Hören Sie, könnten Sie morgen aufs Kommissariat kommen?”

“Wann?”, brachte Wolf hervor.

“So früh als möglich. Vielleicht um acht? Würde das gehen?”

“Das geht. Um acht bei Ihnen – bei wem?”

“Im Kriminalkommissariat bei Paul Eber. Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen.”

“Ist gut”, hörte sich Wolf sagen, “je schneller desto besser.”

Als er an seinen Tisch zurückkehrte, starrte er verständnislos auf die in verschiedenen Schüsseln auf  ihn wartenden Speisen. Die Nachricht von Karrens Tod hatte ihm den Appetit verschlagen.

(…..)

Der Roman Die Münzkönigin steht Kopf, aus dem hier Auszüge wiedergegeben sind, entstand 1978. Das  Copyright befindet sich beim Autor Felix Feigenwinter.

1978 erschien der Roman im Mond-Buch Verlag Basel, und 1981 wurde er in der “Basellandschaftlichen Zeitung” als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht.